Tränen zum Abschied

Der Bruch mit der Siedlerbewegung drängt Sharon in die politische Mitte. Ob ein Rückzug aus der Westbank erfolgt, hängt jedoch von der Entwicklung in den palästinensischen Gebieten ab. von jörn schulz

Die Straße nach Katif wurde von einer brennenden Barrikade blockiert, und demonstrativ betende Aktivisten stellten sich den Soldaten in den Weg. In der Siedlung selbst waren aus Pappe nachgebildete Grabsteine aufgestellt worden, beschriftet mit Namen verstorbener Feinde der Juden wie Titus, Hitler und Arafat. Ein leeres Grab »wurde für jeden ausgehoben, der Juden aus ihren Heimen vertreibt«, erklärte die 14jährige Yehoyada den Journalisten.

Doch auch die extremistischen Siedleraktivisten dürften wissen, dass sie diesen Kampf verloren haben. Bereits am Wochenende waren die Siedlungen im Gaza-Streifen fast vollständig geräumt. Zwar werden noch heftige Auseinandersetzungen bei der Evakuierung von vier Siedlungen in der Westbank erwartet, wahrscheinlich aber wird die Räumung noch in dieser Woche abgeschlossen werden, weit früher, als die Sicherheitskräfte erwartet hatten.

Überwiegend jugendliche Aktivisten lieferten sich einige Scharmützel mit Polizisten und Soldaten, die stärkste Waffe der Siedler aber waren ihre Tränen. »Jeder weinte mit ihnen«, schreibt Orit Shochat in der linksliberalen Tageszeitung Ha’aretz. »Die Siedler mögen die Schlacht um Gush Katif verloren haben, aber sie haben den Krieg um das nationale Bewusstsein gewonnen.« Viele Israelis waren jedoch empört über die kaum verhüllten Morddrohungen gegen Ministerpräsident Ariel Sharon und die Vergleiche der Räumung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten.

Gänzlich unverständlich ist der Unwillen der Siedler allerdings nicht, denn lange Zeit waren sie anerkannte Vertreter einer staatlichen Politik, die sowohl von der Arbeitspartei als auch vom Likud getragen wurde. Die Siedlungspolitik war ein Joint Venture zwischen dem Establishment der Sicherheitspolitiker und der nationalreligiösen Bewegung. Die Sicherheitspolitiker wünschten eine paramilitärische Präsenz in den 1967 besetzten Gebieten, um die Armee zu entlasten. Der Siedlungsblock Gush Katif trennte Gaza-Stadt von den palästinensischen Bevölkerungszentren Rafah und Khan Junis, viele Siedlungen in der Westbank liegen auf den Hügeln, die palästinensische Städte umgeben.

Für die nationalreligiösen Aktivisten der Siedlerbewegung dagegen geht es um den Anspruch auf ihnen heiliges Land. Ihre wichtigste politische Organisation ist die Nationalreligiöse Partei, die mit sechs Abgeordneten in der Knesset vertreten ist. Doch auch die rechtsextreme Nationale Union lehnt Gebietsabtretungen an die Palästinenser ab, und die Basis der Likud-Partei Sharons stimmte im vergangenen Jahr mehrheitlich gegen den Abzug aus Gaza.

Die ideologischen Gegner von Zugeständnissen an die Palästinenser dürfte es nicht besänftigt haben, dass Sharon am Montag der vergangenen Woche die Siedler als »Pioniere bezeichnete, die einen Traum verwirklicht haben« und »die Last der Sicherheit für alle von uns trugen«. Der Ministerpräsident stellte den Abzug aus Gaza als eine Notwendigkeit für Israel dar, gerade weil der Versuch, Abkommen mit den Palästinensern zu schließen, an »einer Mauer von Hass und Fanatismus« gescheitert sei. Nun sei die Umgruppierung der Armee »an einer defensiven Linie hinter dem Sicherheitszaun« möglich.

Diese Sperranlage schlägt etwa zehn Prozent der Westbank der israelischen Seite zu. Sharon betont ebenso wie sein Koalitionspartner Shimon Peres von der Arbeitspartei, dass es sich nicht um einen Vorgriff auf die Grenzziehung handelt. Es spricht jedoch vieles dafür, dass sich eine Friedensregelung etwa am Verlauf des ungeliebten Bauwerks orientieren wird. Auch die Arbeitspartei will die großen Siedlungsblöcke in den Außenbezirken Jerusalems nicht aufgeben. Sharon vermeidet konkrete Äußerungen zu territorialen Fragen, nach dem Bruch mit den Nationalreligiösen rückt die von ihm geführte Fraktion des Likud jedoch in die politische Mitte.

Ob die Umgruppierung in der israelischen Politik, die durch den Abzug aus Gaza eingeleitet wurde, zur Wiederaufnahme der Verhandlungen führt, hängt jedoch vor allem von der Entwicklung in den palästinensischen Gebieten ab. »Die Beweislast liegt bei den Palästinensern«, sagte Sharon, und die Mehrheit der Israelis dürfte diese Ansicht teilen.

Von jordanischem Territorium wurde eine Katjusha-Rakete auf die israelische Hafenstadt Eilat abgefeuert, zwei weitere Raketen trafen den jordanischen Hafen von Aqaba. Zu den Anschlägen bekannte sich eine Brigade des al-Qaida-Netzwerks. Palästinensische Terroranschläge gab es während der Räumung aber nicht. Unter den palästinensischen Organisationen ist es jedoch Konsens, die Räumung der Siedlungen als einen durch bewaffneten Widerstand erzwungenen Rückzug zu betrachten. »Unsere Waffen haben den zionistischen Feind vertrieben«, behauptet die Hamas. Mahmoud Abbas, der Vorsitzende der Autonomiebehörde, sprach am Freitag von »der Frucht palästinensischer Opferbereitschaft« und dankte »unseren Märtyrern«, erneuerte aber auch den Aufruf zum Gewaltverzicht.

Vermutlich weiß nicht einmal Abbas, wie weit die Warlordisierung in Gaza schon fortgeschritten ist. Der Psychiater Eyad Sarraj hält unkontrollierbare nationalistische Gruppen für das größte Problem: »Wenn man von Unsicherheit spricht und vom Problem der Bewaffnung, muss man sich der Fatah zuwenden.« Ein weiteres Dilemma für Abbas ist die Hamas, die eine Beteiligung an der Regierung fordert. »Wir wollen mit entscheiden, zunächst darüber, was mit den befreiten Gebieten geschehen soll«, fordert Ghazi Hamad, Chefredakteur der Hamas-Zeitschrift al-Risala.

Wenn Abbas die Hamas in eine Koalition aufnimmt, droht eine Konfrontation mit der israelischen Regierung, die Verhandlungen mit der islamistischen Organisation ablehnt. Tut er es nicht, droht ein blutiger Machtkampf in Gaza. Zudem würde die Hamas, die einen Gewaltverzicht bis Ende des Jahres zugesagt hat, grundsätzlich aber an der Strategie des »bewaffneten Kampfes« festhält, die Terroranschläge wieder aufnehmen. Andererseits ist keineswegs garantiert, dass eine Regierungsbeteiligung die Islamisten ruhig stellen würde.

Wenn sich in Israel ein Block der politischen Mitte durchsetzt, ginge es bei den Verhandlungen eigentlich nur um fünf bis zehn Prozent des Territoriums der Westbank, die größtenteils noch nicht einmal landwirtschaftlich nutzbar sind, aber als Teil Jersualems betrachtet werden, sowie um eine Kompensation für die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen. Beide Fragen sind ideologisch aufgeladen, und noch ist unklar, ob Abbas in ähnlicher Weise wie Sharon gewillt ist, sich von ideologischen Hardlinern zu trennen, denen territoriale Ansprüche heilig sind.