»Die Türkische Bibliothek will kein Kanon sein«

Lucien Leitess

Mit einer »Türkischen Bibliothek« will der Zürcher Unionsverlag zusammen mit der Robert-Bosch-Stiftung wichtige Werke der türkischen Literatur von 1900 bis heute in Deutschland bekannt machen. Bis zum Jahr 2009 wollen die beiden Herausgeber, Erika Glassen und Jens Peter Laut, insgesamt 20 Bände mit Romanen, Autobiografien, Kurzgeschichten, Gedichten und Essays publizieren. Mit dem Leiter des Unionsverlags, Lucien Leitess, sprachen Heike Runge und Deniz Yücel.

Welche Bücher erwarten uns in der Türkischen Bibliothek?

Wir wollen die Autoren präsentieren, die noch nicht angemessen veröffentlicht sind. Es gibt ja bereits eine Reihe türkischer Werke, die ins Deutsche übersetzt worden sind. Man kennt auch bereits Autoren wie Yasar Kemal, Orhan Pamuk, Nazim Hikmet, Aziz Nesin. Es geht in der Türkischen Bibliothek aber darum, den großen unbekannten Rest zu beleuchten. Von daher ergibt sich auch schon gleich, dass diese Bibliothek kein Kanon sein will.

Wie haben Sie die Autoren ausgewählt?

Die Herausgeber haben sehr viele Fachleute, darunter türkische Literaturkritiker, deutsche Literaturwissenschaftler und Übersetzer, angeschrieben und um Vorschläge gebeten. Was den klassischen Bereich anbetrifft, die Romane bis in die sechziger und siebziger Jahre, gab es sehr schnell Konsens darüber, welche Werke aufgenommen werden sollten. Bei den neuen, jungen Autoren gibt es natürlich immer die virulenten Geschmacksfragen.

Wer wird die Bücher lesen?

Es gibt sicher die Leser, die aus einem gewissen politisch-kulturellen Interesse mehrere oder viele Bände lesen werden. Das Geheimnis von Literatur ist jedoch, dass der Autor bzw. das Buch zu einem selbst spricht, in einem ganz persönlichen, intimen Rahmen; dass man in einem Roman Fragen findet, die einen selbst bewegen; eine Erzählung, die einen selbst umtreibt. Eigentlich sind mir diese Leser am allerwichtigsten.

Dennoch vermuten wir, dass es im Sinne des Projekts ist, möglichst viele türkischstämmige Leser zu finden?

Wir haben natürlich diese Zielgruppe auch im Auge. Das sind ja Zehntausende oder Hunderttausende, die selbst nicht mehr flüssig türkisch lesen und deshalb zu Übersetzungen greifen müssen. Yasar Kemal zum Beispiel wird von sehr vielen Türkischstämmigen auf Deutsch gelesen.

Ende September wird die Bibliothek offiziell in Istanbul vorgestellt, im Oktober beginnen die Beitrittsverhandlungen. Steht die Literatur im Dienst der Politik? Viele türkische Kulturschaffende kritisieren es, dass sie im Ausland weniger als Künstler wahrgenommen werden, sondern als Vertreter ihres Landes, als Botschafter für den EU-Beitritt.

Ich verstehe diese Sorge. Künstler sind Individuen, keine Repräsentanten. Es ist eine sehr schwierige Gratwanderung. Literatur ist entweder universal und spricht zu vielen Menschen in vielen Kulturen, oder sie ist nur lokal interessant, und dann ist sie letztlich nicht wirklich bedeutend. Wir bemühen uns, diese Gratwanderung in Ehren zu gehen, das heißt wir versuchen, die einzelnen Autoren, die einzelnen Titel mit hohem individuellen Profil zu präsentieren. Ahmet Ümit zum Beispiel mit seinem psychologischen, politischen Thriller aus dem Inneren des Geheimdienstes, ist eine literarische Persönlichkeit für sich, er hat einen ganz eigenen Stil. Oder Leyla Erbil mit ihrem aufmüpfigen Roman »Eine seltsame Frau«, dem ersten Werk der türkischen Frauenliteratur. Das sind ganz unterschiedliche Werke und ganz unterschiedliche Temperamente. Ich erhoffe mir, dass diese individuelle Lesart stärker ist als die Klammer der Nationalliteratur.

Wie sind Sie bei den Übersetzungen vorgegangen?

Sobald man aus dem Bereich des Englischen, des Französischen, des Spanischen, also der großen Weltsprachen, die auch eine große Übersetzertradition haben, hinausgeht und zum Beispiel Türkisch, Arabisch, Persisch oder andere Sprachen ins Blickfeld nimmt, stellt man fest, dass es wenig Tradition, wenig Meinungsaustausch, wenige erfahrene Übersetzer gibt. Man kann vieles lange nicht veröffentlichen, weil man keine Übersetzer findet. Weil die Türkische Bibliothek ein großes mehrjähriges Projekt ist, ging es auch darum, neue Übersetzer heranzuziehen.

Im Unionsverlag erscheinen die Werke des ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Mahfus sowie andere arabische und asiatische Autoren. Versteht sich der Verlag als Mittler zwischen Ost und West?

Es war schon immer unsere Politik, die weißen Flecken auf der literarischen Weltkarte zu füllen. Der Eurozentrismus in unserem Literaturkonsum hat mich schon immer gestört. Es wurden Fortschritte gemacht. Heute weiß man, es gibt eine arabische Literatur, die Werke sind auch präsent, sie sind in den Medien – immer noch ungenügend – aber dennoch präsent.

Wo liegen die Grenzen des interkulturellen Dialogs? Nehmen wir das Beispiel der Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunkt »Arabische Literatur«. Nicht nur die Auswahl der Autoren war umstritten, auch die Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga. Schließlich ereignete sich ein Skandal, als ein Grußwort des ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Machfus ausgerechnet von einem Publizisten verlesen wurde – Muhammad Salmawy, Chefredakteur der ägyptischen Zeitung »al-Ahram Hebdo« –, von dem Aussagen existieren, die den Holocaust herunterspielen wollen.

Ich habe diesen Fall natürlich sehr intensiv verfolgt, weil Nagib Machfus unser Autor ist und es völlig außer Frage steht, dass er um die Schrecken des Holocaust weiß und es nie einen Zweifel an seiner Haltung gab.

Die Kritik galt nicht Machfus, sondern Salmawy.

Ich habe niemanden getroffen, der Salmawys Werk, um das es geht, und die Stellen, die von den Gegnern der arabischen Präsenz auf der Buchmesse zitiert wurden, im Zusammenhang und im Original gelesen hat. Ich will nicht urteilen, solange ich es einfach nicht beurteilen kann. Selbstverständlich gibt es Grenzen. Eine Verteidigung von Völkermord, von Barbarei, von Faschismus, von Vernichtung und von undemokratischen Regimes kommt in keinem publizistischen Projekt des Unionsverlags in Frage. Egal ob die Barbarei in Europa oder sonstwo stattfindet. Nie sind wir im Rahmen der türkischen Bibliothek auf ein solches Problem gestoßen. Wir haben eher festgestellt, dass Verwirrung auf unserer Seite herrscht.

Ein Beispiel?

In manchen Rezensionen wird Yasar Kemal zu einem Vertreter des »islamischen Kulturkreises« gemacht. Nichts ist unpassender als das. Ich glaube das Problem liegt zu einem guten Teil in Europa, weil wir ratlos sind und und pauschalisieren. Nie würde ich mir erlauben, im Zusammenhang mit der Türkischen Bibliothek vom »islamisch-europäischen Dialog« zu reden. In den Werken der Türkischen Bibliothek zeigt sich im Gegenteil die Vielfalt der Religionen und Völkerschaften in Anatolien und auch die große Tradition von Laizismus in der Türkei. Selbstverständlich existieren auch islamische Strömungen. Wir tun gut daran, unseren Blick für die verschiedensten Schattierungen zu schärfen – auch für den seit Jahrhunderten unterdrückten, freiheitsdurstigen Alewismus. Warum sollten wir den Regeln des Fundamentalismus folgen und die Religion über alles stellen? Die Türkische Bibliothek ist jedenfalls kein islamisch-christlicher Dialog. Sie versucht einfach die Annäherung und Bekanntschaft zwischen zwei Kulturen.