Döner, Hanf und Luftballons

Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg kämpft der Grüne Christian Ströbele um ein Direktmandat für den Bundestag. Seine Konkurrenz scheint schon aufgegeben zu haben. von josefine haubold (text) und line kühl (fotos)

Zwischen 1 200 und 2 500 Flugblätter hat Christian Ströbele in seinem letzten Wahlkampf 2002 täglich verteilt. Und der Aufwand hat sich gelohnt. Als bundesweit erster und einziger Grüner holte er im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ein Direktmandat für den Bundestag. Weil er auf der Landesliste nicht aufgestellt wurde, betrieb er seinen Wahlkampf unter dem Motto »Ströbele wählen heißt Fischer quälen«. Mit dem Fahrrad fuhr der Politikbesessene unermüdlich durch den Bezirk, verteilte Flugblätter, sprach mit den Bürgern.

Auch diesmal hat Ströbele keinen Listenplatz, muss also das Direktmandat gewinnen, um in den Bundestag einzuziehen. Seine direkte Konkurrentin ist die Kandidatin der Linkspartei, die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Cornelia Reinauer. Aber der emsige Ströbele ist eindeutig der Favorit. Die Linkspartei hat in dem Ost-West-Bezirk einen schwereren Stand als in den reinen Ost-Bezirken der Stadt.

9. August, Maybachufer

Heute ist der Wahlkampfauftakt für Christian Ströbele. Zusammen mit Sibyll Klotz, der Direktkandidatin für Neukölln, will er einen kleinen Spaziergang über den türkischen Wochenmarkt am Maybachufer unternehmen. Die Grünen haben einen Infostand aufgebaut, dort gibt es Broschüren und Heliumballons mit der Aufschrift »Erststimme Ströbele«. Für Frau Klotz gibt es keine Luftballons. Im anhaltenden Nieselregen und begleitet vom türkischen Marktleiter starten die beiden ihren Rundgang. Sie werden von einem Pulk Journalisten verfolgt, der die Gänge verstopft und die Marktbesucher verschreckt.

Schon nach ein paar Metern stoppt der Zug an einem Obst- und Gemüsestand. Ströbele verhandelt mit dem Besitzer: Eine Tomate für ein Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Taschenformat? Der Verkäufer ist skeptisch. Für zwei Büchlein gibt’s dann aber doch ein paar Weintrauben. Und schon geht es weiter. Ströbele versucht, so zu tun, als mache er hier wie jede Woche seinen Einkauf, kostet hier eine Melone und da ein Stück Gebäck, plaudert mit den Verkäufern an den Ständen und beantwortet Fragen der Reporter. Dabei wirkt er ziemlich überfordert. Ein Gemüseverkäufer erklärt auf die Frage, ob er denn wählen geht: Nein, er habe kein Wahlrecht. Aber auch wenn er wählen dürfte, würde er es nicht tun. »Politiker sind Lügner.«

Am »Neuland«-Stand preist die Verkäuferin ihre Currywurst an: Fleisch aus artgerechter Haltung, der Ketchup ist selbst gemacht, ohne Zusatz- und Konservierungsstoffe. Ströbele zeigt sich beeindruckt, kauft dann aber doch nichts, er hat ja eine Hand schon voll mit Einkäufen, und die andere braucht er zum Händeschütteln. Als er außer Hörweite der Fleischverkäuferin ist, gesteht er, dass er ja immer bei Lidl einkaufen geht. Frau Klotz ist entsetzt: Was, bei Lidl? Aber die quälen doch ihre Mitarbeiter! Da darf man doch nicht einkaufen! »Der ist nun mal bei mir um die Ecke«, entgegnet Ströbele.

Am anderen Ende des Marktes wird eine Pressekonferenz abgehalten. Vor einem Schuhstand beantwortet Ströbele Fragen zu seinem türkischen Gegenkandidaten von der SPD, zur Linkspartei und zu Hartz IV. Als er fertig ist, möchte Frau Klotz auch noch etwas sagen, aber die Karawane ist schon weiter gezogen.

15. August, Kottbusser Tor

Heute ist es warm, und am »Kotti« ist mächtig was los. Vor »Kaiser’s« sitzen Punks mit ihren Hunden, an den Eingängen zur U-Bahn treffen sich Junkies und Alkoholiker. Irgendwo hat ein Hund angefangen zu bellen, und plötzlich bellen überall Hunde. Am Gemüsestand erledigen türkische Mütter ihre Einkäufe, dazwischen wuseln Kinder, die den Nachmittag totschlagen. Ein paar Meter weiter hat sich am Infostand der Grünen ein Menschenauflauf gebildet. Dutzende Journalisten stehen herum, sogar das Fernsehen ist da. Ströbele gibt ein Interview. Er hat einen Luftballon mit der Aufschrift »Erststimme Ströbele«, die Schnur ist ständig im Bild. Alle warten auf Claudia Roth. Sie ist auf Wahlkampftour und trifft sich heute mit Ströbele zum »Kiezspaziergang durch Klein-Istanbul«.

Die Grüne Jugend trägt grüne T-Shirts mit der Aufschrift: »Der Sommer wird Grün.« Viele von ihnen sind aus anderen Bundesländern angereist, um in den Sommerferien beim Wahlkampf zu helfen, einer kommt sogar aus Großbritannien. Dafür wird ihnen die Unterkunft bezahlt, und sie können sich Berlin anschauen. Jetzt verteilen sie Infoblätter und Luftballons. Die Heliumballons finden reißenden Absatz, schon nach 20 Minuten ist das Gas verbraucht. Die Abfüllerin gestikuliert »Gas alle!«, und damit es auch alle verstehen, noch einmal etwas lauter: »Gas fertig!« Die Kinder ziehen ab. Plötzlich ertönt ein Trommelwirbel, und eine Zurna setzt ein: Claudia Roth ist da. Sie nimmt ihren Nachbarn an die Hand, er Ströbele, der schon jemanden an der anderen Hand hält, und alle zusammen vollführen einen orientalischen Begrüßungstanz, der mehrere Minuten dauert. Die Journalisten sind begeistert.

Als alle ihre Bilder gemacht haben, übernimmt Frau Roth die Führung und steuert den Gemüsestand an. Ein Pulk von etwa 50 Journalisten und Bürgern folgt ihr. »Wo kommt denn euer Gemüse her?« schreit sie den Verkäufer an. »Vom Großmarkt.« »Vom Großmarkt? Hahaha.« Das findet Frau Roth urkomisch, sie dreht sich um und wiederholt die Antwort für die Umstehenden. Der Verkäufer versteht nicht ganz, warum alle lachen. Ströbele blickt betreten zu Boden.

Ein Paar Meter weiter ist ein Dönerladen, davor sitzen ein paar Touristen. Sie können gerade noch zur Seite springen, als Fotografen und Kamerateams über Tische und Bänke gestürzt kommen. Frau Roth steht hinterm Tresen und säbelt im Blitzlichtgewitter am Dönerspieß herum. Als sie wieder herauskommt, mampft sie zufrieden an einem Dürüm und erklärt den Versammelten, warum Kreuzberg super ist. Weil sie immer so laut reden muss, ist sie schon ganz heiser.

20. August, Friedrichshain

Es ist Samstagmittag. Vor »Kaiser’s« an der Warschauer Straße steht ein einsamer Infostand in der Sonne, es sind schon wieder die eifrigen Grünen. Sie haben das neue Wahlplakat von Gerhard Seyfried mitgebracht. Darauf sieht man einen lachenden Ströbele mit Kiezkulisse, auf dem Gepäckträger seines Fahrrads steht eine Flasche »Bio-Milch von echten Kühen«. Ströbele selbst ist nicht da, er klappert heute Straßenfeste ab: Marheinekeplatz, Graefekietz und Kreutziger Straßenfest, lesbisch-schwules Parkfest im Volkspark Friedrichshain. Abends hat er noch eine Kneipentour, und danach ist er als Gast-DJ auf einer Party eines Berliner Radiosenders.

Cornelia Reinauer, Ströbeles Kontrahentin, ist gestern erst aus dem Urlaub in Kanada zurückgekommen. Als Schirmherrin hält sie die Eröffnungsrede bei dem Fest im Volkspark. Dabei betont sie, dass sie heute nicht in ihrer Funktion als Wahlkämpferin hier sei, und spricht über Toleranz. Nach ihrem kurzen Auftritt ist sie gleich wieder verschwunden. Auch sie will heute noch diverse Straßenfeste aufsuchen und endlich mit dem Wahlkampf beginnen.

Am SPD-Stand verteilt Ahmet Iyidirli, der Direktkandidat der SPD, seine Flugblätter. Damit man ihn erkennt, steht er vor einem seiner Wahlplakate. Aber Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit stiehlt ihm die Show. Er muss Autogramme geben und sich mit allen möglichen Leuten fotografieren lassen. Noch erfolgloser als Iyidirli ist nur der junge Kandidat der FDP. »Nein danke«, sagen die meisten, wenn er ihnen sein Programm in die Hände drücken will. Viele sagen auch gar nichts und gehen einfach weiter. Das könnte aber auch damit zu tun haben, dass es bei der FDP weder Kondome noch Heliumballons noch sonst irgendwas gibt. »Dafür haben wir Inhalte«, sagt der Kandidat. Am Stand der Linkspartei gibt es die größten Luftballons. Und im Gegensatz zu den anderen haben sie ein Verschlusssystem, das sich problemlos öffnen lässt. Überall stehen Leute und reden mit Mickeymausstimmen. An einem Grill dreht sich ein ganzes Schwein. Eine Combo spielt langweilige Lieder im Stil der zwanziger Jahre.

Die Schwulen packen sich die Taschen voll mit Kondomen. »Merkel verhüten« und »Guido verhüten« steht auf denen von den Grünen, »Vorwärts und nicht vergessen!« auf denen der SPD, und bei der PDS: »Die Roten sind die Besten.« Außerdem gibt es dort Brausepulver, Pfeffis und Gummibärchen sowie Stifte, Schlüsselanhänger und Lupen im Kreditkartenformat. Als es dunkel zu werden beginnt, erscheint endlich auch der allgegenwärtige Ströbele, aber das Fest ist schon fast vorbei.

In der Kalkscheune, einem Club in Berlins Mitte, ist es sehr warm. Außerdem ist es ganz schön voll. Am Eingang wird das Programm auf eine Wand projiziert: »Special Guest: Hans-Christian Ströbele (MdB)«. Ein Raum ist mit Rollrasen ausgelegt. Dort riecht es ein bisschen modrig, dafür gibt es Liegestühle. Alles ist mit Gartenmotiven dekoriert, mit Blumen, Gießkannen und Kürbissen. Das Motto der Party ist »Garten«. Deswegen soll auch ein Grüner auflegen. Und da ist auch schon DJ Ströbele, vom Platzregen draußen nass geworden. Als er sich vorstellt, sind die Leute ein wenig ratlos. Erst als er von Stefan Raab und Shaggy erzählt und dem Lied, das die beiden über ihn gemacht haben, hellen sich die Gesichter auf. Dann legt er den ersten Song auf. Oder besser gesagt, er sagt dem DJ, welches Lied er auflegen soll. Es ist »Guten Tag« von »Wir sind Helden«. Die Leute tanzen. Danach spielt er die Stones und Rio Reisers »König von Deutschland«.

Als bei einem Lied die Musik abstürzt, ruft jemand in die Pause: »Gebt das Hanf frei!« Ströbele spielt die Ärzte und Ina Deter, Black Sabbath und The Clash. Er hat sich bestimmt etwas dabei gedacht, diese Lieder auszuwählen, aber so richtig gut kommt die Mischung nicht an beim Publikum. Nach einer knappen Stunde übernimmt wieder der richtige DJ. Es ist ein Uhr, und Ströbele macht, dass er nach Hause kommt. Einer seiner Mitarbeiter erzählt, dass sie heute seit 14 Stunden in Sachen Erststimme unterwegs gewesen seien.

22. August, Hermann-Hesse-Oberschule, Kreuzberg

»Die Hölle ist überwindbar«, steht in einem Graffito auf der Fassade, die Eingangstür ist vier Meter hoch. Die Schüler der zwölften und dreizehnten Klassen sind in der Aula versammelt, auf dem Podium sitzen die Direktkandidaten, ein Lehrer und eine Schülerin mit einem Glöckchen. Jeder hat zwei Minuten Redezeit, dann klingelt sie. Zuerst sollen sich die Kandidaten vorstellen. Frau Reinauer erzählt sehr detailliert aus ihrer Biographie, bis das Glöckchen erklingt. Sie sitzt unter einer bunten Lampe, deswegen sehen ihre Haare grün aus. Als der CDU-Kandidat sich vorstellt, hört man Würgegeräusche aus den letzten Reihen. Er ist ein älterer Herr, der sein Leben lang in Kreuzberg gewohnt hat. Als Ahmed Iyidirli seinen Namen nennt, gibt es spontanen Applaus. Ein großer Teil der Schüler hat einen Migrationshintergrund.

Ströbele stellt sich mit einem Kalauer vor: Sein Vorname sei nicht Erststimme, wie viele vielleicht denken, sondern Christian. Es dauert ein Weilchen, bis alle den Witz verstanden haben. Dann wird Tacheles geredet: Der SPD-Mann soll sich für die Arbeitslosenzahlen rechtfertigen. Er gibt der Globalisierung die Schuld und rät den Schülern, für weitere Informationen das Wahlprogramm der SPD zu lesen. Der CDU-Mann schiebt alles auf die Regierung. Der junge Kandidat der FDP zählt ganz schnell alle Wörter auf, die er im Zusammenhang mit Wirtschaft gelernt hat: Bürgergeld, Steuertransfer, Sozialleistungen, Niedriglohnbereich, erster und zweiter Arbeitsmarkt. Im Saal wird gehüstelt. Frau Reinauer kennt auch noch ein paar schöne Wörter, zum Beispiel Körperschaftssteuer, freut sich aber ansonsten, dass die SPD und die Grünen die Positionen der Linkspartei übernommen hätten.

Als nächstes geht es um innere Sicherheit; um Bundeswehreinsätze im Inland. Der CDU-Kandidat sagt, dass er dafür sei, aber nur in Extremsituationen. Die Situation müsse so extrem sein, dass seine Phantasie im Moment leider nicht ausreiche, um sie sich vorzustellen. Keiner klatscht. Wahrscheinlich strengen alle ihre Phantasie an, um ein geeignetes Horrorszenario zu erfinden. Ströbele hat zufälligerweise sein Grundgesetz im Hosentaschenformat dabei und liest vor, dass Bundeswehreinsätze im Inneren schon jetzt vorgesehen sind, für eine Gesetzesänderung also keine Veranlassung bestehe. Im Übrigen sei er seinerzeit selbst bei der Bundeswehr gewesen und wisse, dass Soldaten im Gegensatz zu Polizisten ausgebildet würden, um zu vernichten und zu töten, und er traue ihnen nicht zu, sich im Inland sensibel zu verhalten. Tosender Applaus. Frau Reinauer erklärt, dass sie für die Abschaffung der Wehrpflicht ist.

Ein Schüler fragt, wie die Kandidaten zu Drogen stehen. Da ist Ströbele in seinem Element: »Gebt das Hanf frei!« Die Schüler johlen und klatschen, der CDU-Mann kriegt fast einen Herzinfarkt: »Aber das öffnet doch Tür und Tor«, stammelt er, Cannabis sei eine Einstiegsdroge. Die Schüler buhen ihn aus. Der FDP-Kandidat sagt, dass er auch bei der Hanfparade war. Aber anscheinend glaubt ihm keiner. Frau Reinauer ist ebenfalls für die Legalisierung und Entkriminalisierung, aber auch für Prävention und Jugendschutz. Der Lehrer fragt Iyidirli, wie denn der Islam zu Drogen stehe. Der antwortet, dass er sich mit dem Islam nicht auskenne. Eine Schülerin fragt Frau Reinauer nach der Forderung der Linkspartei-Jugend zur Freigabe von harten Drogen. Aber Frau Reinauer war die letzten Wochen im Urlaub und hat diese Debatte anscheinend verpasst, deswegen wiederholt sie einfach noch mal das, was sie gerade gesagt hat. Der CDU-Mann hat schlimme Dinge über Drogen gehört, und vor allem über den Drogenkonsumraum in der Dresdener Straße, der müsse »abgeschottet« werden. Frau Reinauer rettet ihn davor, sich um Kopf und Kragen zu reden, indem sie ihm vorschlägt, diesen Raum doch einmal zu besuchen und sich selber ein Bild zu machen. Überall im Saal strecken sich Hände in die Höhe, alle wollen Fragen zum Thema Drogen stellen, aber der Lehrer erklärt dieses Kapitel für erledigt. Große Enttäuschung bei den Schülern.

Dann geht es um den EU-Beitritt der Türkei. Der CDU-Mann hat nichts mehr zu verlieren, er sagt, dass er dagegen ist. Nach ein paar Fragen zu Mehrwertsteuererhöhung, Abschiebung und Studiengebühren ist die Zeit um. Der FDP-Kandidat ist als erster draußen und verteilt seine Prospekte und die Karten, die er schon auf der Hanfparade dabei hatte. Die Schüler behalten die Karten und schmeißen die Prospekte weg. Die Karten sehen schön aus; grünes Hanfblatt auf gelbem Grund. Ahmed Iyidirli fährt mit dem Fahrrad weg.

Auch Christian Ströbele klettert auf sein Fahrrad und braust zum nächsten Termin. Am Abend muss er zu einer Podiumsdiskussion beim Komitee für Gerechtigkeit. Dort wird er die anderen Kandidaten wieder treffen.