Geschichten von Gespenstern

Was macht das Kino, wenn alles schon erzählt ist? christian petzoldüber narrative Strategien, Traumzustände und den Wunsch, ein einfacher Arbeiter am Fließband der Bilderproduktion zu sein.

Ihr neuer Film heißt »Gespenster«. Es ist ein Begriff, der in politisch-theoretischen Diskursen en vogue ist. »Marx’ Gespenster« von Derrida erlebte einen Hype, im neuen B-Books-Reader »Outside« wird über die »Gespenstigkeit queerer Räume« gesprochen. Sehen Sie irgendeine Beziehung zu Ihrem Filmtitel?

»Gespenster« bezieht sich auch auf die erste Schrifttafel in Murnaus »Nosferatu«-Film, die der Arzt auf dem Weg zu Draculas Schloss liest: »Er ging über die Brücke, und dann kamen ihm die Gespenster entgegen.« Als Zuschauer im Kino befindet man sich in einem traumähnlichen Zustand. Man ist körperlich anwesend und abwesend zugleich – so wie man im Bett liegend träumt. Das hat natürlich was miteinander zu tun. Unter Gespensterfilmen verstehe ich nicht nur die Sorte Film, in denen es um Übersinnliches geht. Die Figuren im Kino sind immer im Begriff, ihre Materialität zu verlieren, und bemühen sich, materiell zu bleiben. Das ist auch bei Jack Lemmon in Billy Wilders »Apartment« so, wenn er als No-Name in der Massenmaschinerie eines Großraumbüros und zuhause vor einem dauernd laufenden Fernseher einsam sein Leben fristet. Plötzlich taucht dann diese Frau auf, Shirley MacLaine, die auch eine gespenstische Projektion ist. Das gespenstische Abgleiten in Zwischenräume, das Herausfallen aus der Normalität, ist in vielen Filmen vorhanden und hat mir auch immer gefallen.

Trotzdem ist die Wahl des Titels »Gespenster«, den Sie ja auch schon mal für einen anderen Film, »Die Innere Sicherheit«, im Kopf hatten, nicht zwingend, wenn man der Geschichte folgt.

Ich habe nicht beschlossen, einen Film über Gespenster zu machen; als ich die Geschichte geschrieben hatte, fiel mir auf, wenn man die richtige Erzählung mit der richtigen Grammatik hat und man ihr folgt, dann fällt einem der Begriff Gespenster für die Figuren vielleicht nicht so direkt ein. Aber in diesem Film geht es um etwas Nachgeschichtliches. Nicht im Sinne von »Post-Histoire«, das will ich nicht sagen, aber die Geschichten sind schon erzählt. Eine Mutter schleppt ein Trauma mit sich rum. Ein Mädchen, das möglicherweise ihre Tochter sein mag, erfindet Zukunftsgeschichten. Und ein anderes Mädchen erfindet Geschichten, mit denen sie anschaffen gehen kann. Diese Geschichten werden in diesem Film erzählt, aber der Film selbst ist nicht diese Erzählung. Das alles sind Nachbeben von Erzählungen. Daher wurde mir klar, dass das alles Gespenster sind, ein Nachhall von Geschichten, die schon vorher andere für sie erlebt und gelebt haben.

Dieser Schwebezustand gibt dem Film einen merkwürdigen Effekt. Als der Abspann lief, hatte ich das Gefühl, der Film habe noch gar nicht richtig angefangen. Alles ist schon passiert, nur imaginiert oder im Anfangsstadium.

Ja, genau. Vielleicht ist es auch mal richtig zu sagen: Okay, die Geschichten kann man nicht mehr zu Ende erzählen, weil die Identitäten, die so eine zu Ende erzählte Geschichte noch vorgibt zu haben, in der Krise sind. So einer Geschichte, die wie ein Entwicklungsroman funktioniert, wo der Protagonist ein Problem hat, es löst und zum Schluss einen Schritt weiter ist, kann man heute vielleicht nicht mehr glauben. Vielleicht muss man dann einfach auch wagen, dass ein Film nur noch Exposition ist.

War Ihnen von Anfang an bewusst, dass der Film sich offensichtlich an Fragen der Repräsentation und Narration abarbeitet? An der Frage, wie man heute überhaupt noch erzählen kann?

Wenn man anfängt zu drehen, darf man nicht mehr ganz so klug sein, sonst implodiert die Geschichte. Wobei das in den Unterhaltungen mit Harun Farocki, der immer am Drehbuch mitschreibt, oder auch mit den Darstellern, ziemlich klar wurde. Ich wusste nie, wie der Film wirklich endet. Das habe ich immer mit einer gewissen Angst aufgeschoben und letztlich Julia Hummer überlassen. Sie hat eigentlich das Richtige gemacht, sie hat Fotos in der Hand, die auf ihre mögliche Herkunft und ihr Trauma verweisen. Und sie wirft sie in den Müll und geht ins Nichts. Das macht mich, wenn ich den Film sehe, immer entsetzlich traurig. Ich selber bin noch so romantisch, dass ich hoffe, dass alles gut wird. Doch die ganzen Erzählungen und Musiken, die Stadt und die Natur und alles, was so Orte sind, um sich zu fassen, um sinnlich wieder da zu sein, antworten plötzlich nicht mehr.

Ich dachte da immer mal wieder an Truffauts »Sie küssten und sie schlugen ihn«. Das Schlussbild hat mich immer total fertig gemacht. Der heimatlose Junge geht zum Meer, die Kamera umkreist ihn, und er ist für diesen Moment glücklich. Aber es geht auch nicht weiter. Er wird nie wieder dieses Glücksgefühl haben. Mit diesem Gefühl geht man aus diesem Film raus.

Sie haben das deutsche Kino einmal als zweidimensional bezeichnet und kritisiert, dass die Schauspieler immer vor irgendwelchen Hintergründen stehen und ihre Dialoge aufsagen, aber sich gar nicht an den konkreten, historischen Orten mit einem konkreten Gefühl für dessen Räumlichkeit und Zeitlichkeit befinden. Deswegen arbeiten Sie anders mit den Schauspielern, laden sie vor dem Dreh ein und halten soziologische Vorträge über die Orte.

Das habe ich immer gerne gemacht, aber noch nie so extrem wie bei diesem Film. Wir haben in diesem Hotel »Marriott«, wo auch ein großer Teil des Filmes spielt, eine Woche lang Filme geguckt, das Drehbuch gelesen, ich hab alles aus meinem Arbeitsheft erzählt, über »Nosferatu«, Gespenster im Kino und so weiter. Das mache ich auch, um meine Arbeit transparent zu machen und später nicht den Regie-Gott geben zu müssen, der irgendwelche mystischen Geheimnisse hat.

Welche Art von Filmen schaut sich das Team an? Sabine Timoteo spielt beispielsweise sehr beeindruckend eine junge Frau, die heimatlos und arbeitslos ist, aber immer noch von dem Wunsch getrieben wird, nicht nur zu überleben, sondern womöglich auch noch Star oder Sternchen im Fernsehen zu werden.

Ich benutzte keine Filme, die direkt was mit dem eigenen Film zu tun haben, sondern suche eine Fiktion, die beispielsweise ein Angstzusammenhang für eine Figur ist. Das Mädchen Toni ist eine Figur, die driftet, noch jung, aber schon an der Grenze zu nicht mehr ganz so jung. Eine Figur, die in diese ganze Casting- und Medienwelt, in diese neue biopolitische Welt hinein möchte, aber ihre biologische Uhr tickt schon dagegen. Eigentlich wird sie da nicht mehr aufgenommen werden können. Sie wird vielleicht noch einmal von einem Regisseur für ein paar Tage benutzt, und dann fällt sie endgültig raus. Und dieses endgültige Rausfallen und dann in einen Drift geraten, aus dem es kein Entkommen mehr gibt, das fand ich zum Beispiel an dem Film »Wanda« mit Barbara Loden so toll. Dort ist die Protagonistin auch so ausgelebt. Auch eine Gespenstische, eine lebende Tote, eine Arbeitslose, die nur noch tagtäglich ihre Zeit rumbringen muss und keine Orte mehr für sich hat. Nur noch Zeit, keinen Ort.

Wie liefen denn die Dreharbeiten nach dieser Vorbereitung?

Mit einer ungeheuren Leichtigkeit. Wir haben jeden Tag nur sieben, acht Stunden gedreht. So konnte auch jeder wieder in seine soziale Privatwelt zurückkehren. Alles war so unaufgeregt, obwohl es um viel ging.

Wenn ich Bekannten von Ihrem neuen Film erzähle, entgegnen die: »Aha, zwei Mädchen ohne Heimat und ein reiches Paar, das eine Tochter sucht – das klingt klischeebeladen und nicht sonderlich originell.«

Was mich interessiert, ist die Perspektive auf eine Geschichte, eine Verschiebung oder eine Differenz. In den Western ist es genau so, eigentlich sind das immer ganz klassische Geschichten, die sich in drei Sätzen zusammenfassen lassen, aber es geht um viel mehr. Das zu treffen, darauf kam es mir an. Ich wollte nicht die Suche einer bourgeoisen Französin filmen, sondern lieber aus der Perspektive eines Mädchens erzählen, die sich, ähnlich wie Heimkinder, so Herkünfte zusammenphantasiert, da das Leben sonst nicht erträglich ist. Sich vorzustellen, dass die Eltern einen einfach weggeschmissen oder liegen gelassen haben, da ist man ein Nichts. Man hat auch niemanden, der einem eine Identität gibt. Und der Therapeut in so einer Einrichtung, der kann einen halbwegs zusammenflicken, aber der kann einem nicht die Eltern oder den Liebeszusammenhang ersetzen. Da werden oft so Kaspar-Hauser-Identitäten aufgebaut – eigentlich sind sie total geliebte Kinder und nur durch eine Intrige im Wald ausgesetzt worden … Wie im Märchen, das gibt es ganz oft. Hier taucht jetzt plötzlich ein anderes Mädchen auf, das dieses Heimmädchen zur Liebe verführt, damit sie auch geliebt wird, und eine Frau, die ihr auch noch diese Herkunft gibt. Beides taucht in dieser Geschichte auf, aber am Ende weiß dieses Mädchen, dass beide ihr auch nicht helfen können. Beide Realisierungen von irgendeiner Traumwelt helfen ihr nicht. Und die einzige Möglichkeit für sie, nicht mehr Gespenst zu sein, ist, aus den Geschichten auszusteigen.

Der Film besitzt eine besondere Spannung. Einerseits wirken die Figuren ihrer Geschichte enthoben und schlagen auch dauernd Angebote der Einschreibung und der biografischen Bedeutung aus, andererseits ist der Film doch sehr naturalistisch und konkret fotografiert.

Da hat mich Literatur sehr beeinflusst. Das ist manchmal toll, wenn man so was wie Rainald Goetz liest, das ist alles wahnsinnig konkret. Einen Morgen nach einer Party beschreibt der fast wie in einem Nouveau Roman. Da ist jedes Plattencover, das auf dem Boden liegt, jeder umgefallene Drink und jede Kippe auf dem Teppich unheimlich konkret, aber gleichzeitig wie in einem Stillleben. Das gehört dir nicht mehr, das ist so für sich selbst. Das ist kurzgeschlossen, und du bist als derjenige, der durchgeht, nur noch Betrachter und nicht mehr Teil dieser Welt. Dieser Moment hat mir ganz gut gefallen.

Der taucht auch im Kino ganz oft auf. Ich habe letztens »My Darling Clementine« von John Ford gesehen. Ein ganz konkreter Film, die Menschen haben ganz konkrete Vorlieben und Begehren. Dann tritt eines Morgens der Marshall Wyatt Earp (Henry Fonda) aus dem Hotel heraus, und alle Leute in der Stadt ziehen zum Tanz an ihm vorbei. Der gehört nicht mehr so richtig dazu und setzt sich auf einen Schaukelstuhl, schaut den Menschen zu und bleibt in einem Schwebezustand. Der gehört nicht dazu, aber ist trotzdem gleichzeitig da. Dieser Schwebezustand und diese Anspannung in den Figuren, die gefällt mir im Kino immer sehr. Diese Schwebe wollte ich auch in dem Film haben: Ist das jetzt Märchen oder konkret?

Ist »Gespenster« nicht auch insgeheim ein Western?

Ja, das ist ein Western. Ich habe von Anfang an allen Schauspielern gesagt, wir drehen einen Western. Irgendwann wurde mir das bewusst, und dann musste ich auch darauf reagieren. Alle stehen immer in offenen Fenstern, so wie bei Ford, wo dann jemand raus tritt und draußen ist. Da ist die Welt eigentlich wie eine Wüste. Die Figuren galoppieren auch immer unruhig von einem Ort zum anderen, auf der Suche nach irgendetwas, alles ist nur Zwischenstation. Dazu wenig Musik und viel Naturgeräusche. Im Western gibt es ja auch immer ein ganz kleines Ensemble und eine kleine Stadt, die von einer Wüste umgeben ist. Man weiß nie, wovon die Leute leben. Und gleichzeitig existiert eine ungeheure Konkretion. Die Art und Weise, wie sie eine Pistole halten und aufs Pferd steigen, das ist absolut physisch.

Das ist auch interessant im Hinblick auf das, was politisches Kino genannt wird: Einerseits entzieht sich die Art und Weise, wie Sie ihre Geschichten erzählen, einer eindeutigen politischen Message, andererseits sind wiederum die Leute, von denen erzählt wird, alle sehr real. Es sind fast alles Arbeiter, die verloren sind, oder Menschen, die ihre Arbeit verloren haben.

Diese Verbindung von etwas ganz Alltäglichem und etwas vielleicht auch Überhöhtem, Überzeichnetem, ist das, was mich interessiert. Diese Motivation hatte ich auch schon, als ich einen Film über Mitglieder der RAF gemacht habe, weil sie nur noch ein gespenstisches Gebilde und ein Mythos war, in dem Ulrike Meinhoff als Maria dargestellt wurde. Das hat mich fasziniert, was da eigentlich nur noch als Nachbeben von bestimmten Ereignissen existierte.

Wie stehen Sie zu dem Politikbegriff des Kinos, in einer Zeit, in der jeder triviale Film zwischen »Sophie Scholl«, »Goodbye Lenin« oder »Berlin Is In Germany« als explizit politisch rezipiert wird?

Quer durch die Filmgeschichte schaue ich mir ungern politische Filme an. Ich mag nicht, wenn man Bilder macht, die nur dafür da sind, einen Sachverhalt zu übersetzen, und die man als Zuschauer dann wieder zurück übersetzen muss. Das ist ein DDR-Kino, wo man Metaphern versteckt, teilweise an der Zensur vorbei, und der Zuschauer soll sie dekonstruieren. Da bleiben selten Reichtum oder Komplexität erhalten. Ich rette mich aus dieser Diskussion mit Hilfskonstruktionen heraus: Man kann politisch Filme machen, aber nicht politische Filme machen. Politisch Filmemachen, davon sind wir jedoch sehr weit entfernt. Die Strukturen sind kompliziert – und jetzt ohne Geld einen Film wie eine Garagenband eine Platte zu machen, dasalles ist ja auch meistens eher subkulturelles Kleinbürgertum. Ohne Geld mit einer Kamera und einem Team von sechs Leuten, das wünschen sich ja auch eher die Redakteure in einer Struktur voller Sparmaßnahmen. Film ist auch Ware und Geld, und dieser Konflikt muss sich auch in den Filmen spiegeln.

Sie haben es geschafft, dem System etwas abzuringen. Nachdem Sie für die Finanzierung von »Die Innere Sicherheit« drei Jahre gebraucht haben, war jeder darauf folgende Film erfolgreich.

Ja, seitdem kann ich mich nicht mehr beschweren.

Viele talentierte Filmemacher Ihrer Generation haben nicht das Glück, im richtigen Moment unterstützt zu werden. Woran liegt das? Hat das System eben doch nur für wenige interessante Filmemacher Platz? Viele interessante Filme schaffen es gerade mal eine Woche auf die Leinwand eines alten Großstadt-Programmkinos.

Wenn man nach Italien, Spanien oder Portugal fährt, die haben alle dasselbe Problem. Das Kino als öffentlicher Ort verschwindet. Multiplex ist halt was anderes, eine Verkaufsbude für den Mainstream, mit Popcorn und einem McDonald’s, wo in den Kindertüten wieder eine Figur von »Shrek 2« drin liegt. Aber dass man durch seine eigene Stadt geht, in den Abend steigt und in die Nacht wieder heraus tritt, dann vielleicht ein bisschen schweigt, wenn man den Film hinter sich hat, das gibt es alles gar nicht mehr. Das ist das Problem. Ich glaube auch nicht, dass der Beamer und die DVD, obwohl ich ja selber auch ein DVD-Junkie bin, das alles ersetzen kann. Natürlich macht das Spaß, mit acht Freunden zusammen und viel Bier sich einen Film anzugucken. Aber trotzdem ist das nicht »ins Kino gehen«.

Inwieweit muss ein Filmemacher klassische Künstlerklischees bedienen? Sie haben einmal gesagt, Sie wären lieber der Arbeiter am Fließband einer alten amerikanischen Filmfabrik als der große Autor, den Sie im europäischen Kontext immer spielen müssen.

Mir wäre es echt lieber, wenn ich jeden morgen die Kinder in die Schule bringen könnte und danach zur Arbeit gehen würde. Ich würde lieber auf diese Art Filme machen. Ich mag Künstlerspielen bei Schauspielern nicht, und bei mir selber auch nicht. Ich mag es viel lieber, wenn man einfach arbeitet. Damit will ich nicht Handwerk gegen Kunst stellen, aber eine Kontinuität in seiner Arbeit zu haben, ist mir ganz wichtig. Wenn der Godard sagt, er würde auch nicht mit einem Piloten fliegen, der nur alle drei Jahre ins Flugzeug steigt, dann gilt das glaube ich auch für Regisseure.

interview: tim stüttgen