Kapital ist sozial

Obwohl die CDU immer eine kapitalfreundliche Politik betreibt, pocht sie darauf, dass sie sozial sei. von stefan frank

Sozial ist, was Arbeit schafft.« Dieser Satz, der auf Alfred Hugenberg und die Deutschnationale Volkspartei zurückgeht und den die CSU im Bundestagswahlkampf 2002 plakatierte, gefiel so gut, dass auch die CDU diesmal nicht darauf verzichten mochte. Die Wahlkampfhelfer der Union haben nicht zu befürchten, mit der Frage konfrontiert zu werden, ob es denn dann nicht mal wieder Zeit sei, einen Weltkrieg anzuzetteln. Denn jeder weiß, was gemeint ist: Arbeitslosigkeit entsteht dadurch, dass deutsche Firmen international nicht konkurrenzfähig sind.

In Ländern wie Somalia oder dem Kongo gibt es keinen Kündigungsschutz, und was Tarifverträge, Mitbestimmung, Rentensystem und Krankenversicherung angeht, sind sie bereits jetzt auf dem Stand, den die Rürup-, Hartz- und Herzog-Kommissionen in Deutschland erst in fünf Jahren erreichen wollten. Darum sind solche Länder ja auch in der Endrunde der Exportweltmeisterschaft, während für deutsche Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten nur ein paar Erdnüsse abfielen.

Nein, bleiben wir bei der Wahrheit. Selbstverständlich haben die großen deutschen Konzerne in den vergangenen Jahrzehnten so gut verdient, dass sie sämtliche Firmenklos mit 999er-Gold lackieren lassen könnten. Aber was ist mit dem Mittelstand? Mit jenen Unternehmen also, in denen der Chef die Angestellten noch persönlich feuert und an der Tür über die hohen Lohnnebenkosten weint? Schauen wir in die Zeitung: Der M-Dax, also jener Börsenindex, der die Aktien von 70 zum größten Teil mittelständischen Unternehmen umfasst, hat sich in den vergangenen beiden Jahren mehr als verdoppelt. Ist es die Vorfreude auf Angela Merkel?

Spätestens hier sieht man, wie unsinnig es ist, sich mit der herrschenden Wirtschaftsideologie zu beschäftigen, und die, die das tun, etwa die Wissenschaftler der Memorandum-Gruppe, die Jahr für Jahr erklären, was die Bundesregierung in den zurückliegenden zwölf Monaten wieder falsch gemacht hat, sind nicht zu beneiden. Ihr Fehler ist, dass sie glauben, es könne eine Regierung geben, die »die Arbeitslosigkeit bekämpft«. Warum sollte eine Regierung so etwas wollen? Die Propaganda gegen Arbeitslosigkeit läßt sich bloß besser vermarkten als die Parole: »Wir wollen noch mehr Geld von unten nach oben transferieren!« Allerdings ist festzustellen, dass die Parteien sich dieser Aussage immer mehr nähern; von Wahlkampf zu Wahlkampf sind sie ehrlicher geworden, inzwischen werden nur noch solche Reformen versprochen, die »weh tun«. Was nicht weh tut, gilt als unseriös.

Warum aber nennen alle ihre Politik trotzdem immer noch »sozial«, vielleicht mit Ausnahme der FDP? Ist nicht die Rede von einer »sozialen« Politik schon der halbe Weg zum Stalinismus? Oder jedenfalls ein völlig unnötiges Zugeständnis an die Reflexe der Angehörigen bildungsferner Schichten? Hat die CDU das nötig?

Es ist wohl Teil der Traditionspflege. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts hat die politische Rechte neben den Waren Religion, Patriotismus, »Schutz vor Kriminalität«, Familie, Militär und Antikommunismus immer auch das Soziale im Angebot gehabt, mag die Praxis dem auch völlig entgegengesetzt gewesen sein. Dabei hat sie sich stets auf das Christentum berufen, das mit sozialem Handeln angeblich etwas zu tun habe. Mit der Enzyklika »Rerum Novarum«, die Papst Leo XIII. im Jahr 1891 verkündete, war offensichtlich, wie nach Gottes Meinung die »soziale Frage« nicht gelöst werden darf: Den Kampf der Arbeiter sieht der Herr nicht gern, stattdessen gibt es für sie Almosen. So war die Haltung der Kirche zufällig die gleiche wie die der Bourgeoisie, was den Konservativen das Leben erleichterte.

Als die CDU gegründet wurde, erfand man auch einen Arbeitnehmerflügel, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA), die nicht viel zu sagen hatte, aber dafür über Theorien des »Miteigentums« diskutieren durfte. Um die streng kapitalfreundliche Politik der CDU etwas bunter erscheinen zu lassen, hielt man sich immer auch ein paar Politiker, denen man ein Herz für Arbeiter nachsagte, etwa den von 1947 bis 1956 amtierenden nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold, der Nordrhein-Westfalen zum »sozialen Gewissen« der Bundesrepublik ernannte oder, in jüngerer Zeit, Norbert Blüm.

Dieser aber nahm wohl seinen endgültigen Abschied vor zwei Jahren auf dem Leipziger Parteitag, als er zu zeigen versuchte, dass eine unsoziale Politik unsozial sei, was aber dort verständlicherweise niemanden interessierte. Was will Blüm auch? Er selbst rühmte sich 1998 in einem Schreiben an die Regierungsfraktionen seiner Verdienste beim Sozialabbau: »Deutschland ist kein Land im Stillstand.« (ISW-Report Nr. 35) 60 Milliarden Mark habe er bei den Rentnern eingespart, 38 Milliarden Mark bei den Arbeitslosen, außerdem habe er die Zahl der Mitarbeiter, bei der der Kündigungsschutz nicht gilt, von fünf auf zehn Lohnabhängige verdoppelt und die Höchstdauer für befristete Arbeitsverträge auf zwei Jahre erhöht und so weiter.

Die bei Antritt der Regierung Kohl hierfür genannten Begründungen lauteten so wie heute. Dabei begnügte sich die CDU damit, das Programm der FDP zu übernehmen. Otto Graf Lambsdorff hatte im Sommer 1982 erkannt, dass die weltweite Wirtschaftskrise eigentlich eine »Vertrauenskrise« sei und man dem auf der Couch liegenden Kapital wieder eben jenes Vertrauen einflößen müsse, etwa durch Kürzung des Arbeitslosengelds, die Streichung des Mutterschaftsurlaubsgelds, die Umwandlung des Bafög in ein Darlehen, die Abschaffung der Gewerbesteuer bei gleichzeitiger Erhöhung der Mehrwertsteuer etc.

Die CDU brauchte ein Jahr Bedenkzeit, dann kam im Juli 1983 das George-Papier, benannt nach dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe »Arbeit und Soziales« der CDU/CSU. Er beklagte einen »unter der SPD-Herrschaft gezüchteten gesellschaftspolitischen Illusionismus«; es gebe die Erwartung, dass über den Staat »alles machbar sei«. Damit, das heißt mit den »zu hohen« Lohnnebenkosten, dem Frauen- und Jugendarbeitsschutz und dem Kündigungsschutz, müsse nun Schluss sein. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) reichte wenig später zehn wiederum sehr ähnlich lautende Thesen nach und schlug zur Senkung der Arbeitslosigkeit mehr ehrenamtliche Tätigkeit vor. Vor allem dürften Unternehmerentscheidungen nicht »verbürokratisiert« werden.

Norbert Blüm, von dem man wusste, dass er kein Denker ist und deshalb in der Bevölkerung das geringstmögliche Misstrauen hervorrufen würde, überließ man die Ausführung der Pläne. Darauf, dass sie eine »soziale« Partei sei, bestand die CDU dennoch. Auf Plakaten im Europawahlkampf 1984 konnte man lesen: »Gegen ein sozialistisches Europa. Deutsche, wählt das freie und soziale Europa«. 1987 hieß es: »Weiter so, Deutschland. Stabile Preise. Sichere Renten. Mehr Arbeitsplätze«.

Wie sich die Zeiten geändert haben! Heute heißt es, »ein Weiter so!« dürfe es »nicht geben« – und schon gar keine sicheren Renten. Statt Wohlstand verspricht man »schmerzhafte Einschnitte«. Diese Ehrlichkeit hat ihren Grund natürlich darin, dass nicht die zu 95 Prozent apolitischen Wähler eine Wahl entscheiden, sondern das politisch immer sehr interessierte Kapital. Das hat im Jahr 1998 gezeigt, dass es auch die SPD eine Wahl gewinnen lassen kann, wenn es will. Nun muss sich Angela Merkel anstrengen, das Vertrauen ihrer Vorgesetzten zurückzugewinnen.