Kontrolle und Tabu

Im kurdischen Nordirak ist die Genitalverstümmelung weit verbreitet. Frauenorganisationen haben eine Kampagne gegen diese Praxis begonnen. von sandra strobel, suleymania

Bekannt ist die Praxis der »Female Genital Mutilation« (FGM) vor allem aus dem subsaharischen Afrika und aus Ägypten, wo einer Untersuchung zufolge 97 Prozent aller verheirateten Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren an der Klitoris verstümmelt worden sind. Seit langem vermuten Frauenorganisationen, dass diese brutale Praxis auch in anderen islamischen Ländern weit verbreitet ist. Doch in Diktaturen wie Syrien, Saudi-Arabien oder dem Iran werden Informationen zu diesem Thema weitgehend unterdrückt. Seit einiger Zeit beginnt sich dies allerdings, wenn auch sehr langsam, zu ändern. So hat etwa die jemenitische Regierung nach Angaben von Unicef einige Schritte unternommen, um Klitorisbeschneidungen zu unterbinden.

Und seit einiger Zeit wird auch im kurdischen Nordirak über dieses Problem offen diskutiert. Mitte der neunziger Jahre begannen Frauenorganisationen in Suleymania, die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen zu thematisieren. Möglich war dies, weil diese Region nach 1991 dem militärischen Zugriff der Diktatur Saddam Husseins entzogen war. Seitdem hat sich im Nordirak eine rudimentäre Zivilgesellschaft entwickelt. Ersten Berichten über Klitorisbeschneidungen, die das Fraueninformationszentrum Rewan vorlegte, wurde allerdings kaum Glauben geschenkt. Offiziell ist diese Praxis verboten, was dazu führt, dass sie, anders als in Afrika, heimlich und unter äußerst unhygienischen Umständen durchgeführt wird.

Erst als vergangenes Jahr die deutsch-österreichische Hilfsorganisation Wadi in Germian, einer extrem armen und benachteiligten Region im Südwesten Suleymanias, eine Studie unter 1 500 Frauen durchführte, wurde das Ausmaß des Problems bekannt: 907 der befragten Frauen waren beschnitten. »Wir waren erschüttert, als wir die Resultate sahen«, sagte Suaad Abdulrahman, die Frauenprojektkoordinatorin von Wadi. »Wir wussten zwar, dass es diese fürchterliche Praxis hier gibt, nicht aber, dass mehr als 50 Prozent der Frauen betroffen sind.« Hero Umar, eine Sozialarbeiterin aus Germian, die an der Studie beteiligt war, erklärt, in der Regel würden die Mädchen im Alter von vier bis sechs Jahren dem schmerzhaften Eingriff unterzogen. Dabei komme es häufig vor, dass Mädchen verbluteten.

Im Irak findet die so genannte Sunna-Beschneidung statt, bei der äußere Schamlippen und Klitoris entfernt werden. Diese Bezeichnung nimmt Bezug auf die Sunna, die islamische Überlieferung, der zufolge Mohammed einer Beschneiderin die Anweisung gegeben habe soll: »Nimm wenig weg und übertreibe nicht!« Im Koran dagegen wird die Frauenbeschneidung nicht erwähnt. Deshalb herrscht unter den Klerikern Uneinigkeit. Einige sunnitische Rechtsschulen befürworten die Beschneidung, andere lehnen sie ab.

Unter Saddam Husseins Regierung wurde die Beschneidung von Frauen geleugnet, deshalb fehlen umfassende statistische Daten. Auch die kurdische Regionalregierung hat es bislang bevorzugt, das Problem herunterzuspielen, erklärt Awad, der lange in einem Frauenschutzhaus gearbeitet hat. Nun bereitet er, unterstützt von Hilfsorganisationen, eine Studie im Nordirak vor. »Was wir brauchen, ist eine landesweite Kampagne gegen Genitalverstümmelung. In Schulen, Kindergärten, Moscheen und in den Medien muss dieses Problem thematisiert werden.«

Bislang wird Beschneidung als Familienangelegenheit und absolutes Tabuthema behandelt. In der sehr patriarchalisch geprägten kurdischen Gesellschaft spielt das Konzept der »Ehre« eine Schlüsselrolle. Die »Ehre« der Familie ist direkt an das Sexualverhalten der Frauen gebunden und wird mit Waffengewalt verteidigt. »Khatana, so der kurdische Name für Beschneidung, warnt das Mädchen auf brutalste Art davor, die Ehre der Familie in Gefahr zu bringen. Das ist Besitzsicherung«, sagt Runak Faraj, die Geschäftsfüherin von Rewan.

Die Praxis der Genitalverstümmelung passt schlecht zu dem Bild, das die Kurden gerne nach außen vermitteln. Insbesondere Suleymania gibt sich betont westlich, weniger Frauen als in anderen kurdischen Städten tragen hier ein Kopftuch. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich eine andere Realität. »Wir Frauen wissen alle, dass es für uns eine rote Linie gibt, deren Überschreitung schnell tödlich verlaufen kann. Keine von uns ist frei. Auch in Suleymania nicht, der modernsten Stadt Kurdistans«, sagt Nias, eine Studentin der Universität Suleymania, die gerade ihre Magisterarbeit über Selbstmorde von Frauen beendet hat.

Stichproben von Rewan ergaben, dass selbst in Suleymania im Jahr 2001 noch mindestens zehn Prozent der Frauen beschnitten waren. »In Dörfern und den armen Stadtvierteln der Städte, in denen Traditionen und Unwissenheit dominieren, liegt die Quote wesentlich höher«, erklärt Nias. Auf dem Land seien die Leute noch immer der Ansicht, unbeschnittene Frauen seien schmutzig und könnten nicht kochen, weil sie ständig an Sex denken würden.

Zudem unterstützen viele Kleriker die Beschneidung. Aber es gibt auch gegensätzliche Entwicklungen. In Suleymania wurde sogar eine Fatwa gegen Genitalverstümmelung von Frauen erlassen, doch ist sie vor allem in Dörfern, in denen die Frauen weder lesen noch schreiben können, weitgehend unbekannt. »Tradition ist ein wichtiger Pfeiler der kurdischen Gesellschaft. Nur wenige haben Khatana bisher in Frage gestellt. Man macht es, weil es schon immer so war, weil es alle machen und weil es eben gemacht werden muss«, sagt Nias. »Außerdem herrscht in unserer Gesellschaft ein völlig unnatürliches Verhältnis zu Sexualität. Die Eltern reden mit ihren Kindern nicht darüber und können ihnen deswegen nicht vertrauen.« Das größte Problem sei der Wunsch der Männer, totale Kontrolle über ihre Frauen auszuüben.

Befragungen haben allerdings ergeben, dass vor allem ältere Frauen auf der Beschneidung ihrer Töchter oder Enkelinnen bestehen. Dies mag auf Unwissenheit zurückzuführen sein, aber auch die Angst, unbeschnittene Frauen könnten von ihrem Ehemann nach der Hochzeitsnacht wieder nach Hause geschickt werden, spielt eine Rolle. Doch selbst in den Dörfern beginnt sich etwas zu ändern. Fatima erzählt: »Meine Mutter hat es bei mir und allen meinen älteren Schwestern getan. Aber bei meinen jüngeren Schwestern habe ich es nicht zugelassen. ›Wenn du es trotzdem machst, schneide ich dir deine Ohren ab!‹ sagte ich meiner Mutter.«

Dass verschiedene Medien über Klitorisbeschneidungen berichtet haben, Frauenorganisationen Aufklärungskampagnen planen und dass offener über die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen diskutiert wird, sei erst der Anfang eines langen und schwierigen Prozesses, meint Nias. »Früher, zu Saddams Zeiten hätte man uns einfach verhaftet, oder wir wären verschwunden.« In Suleymania hofft man, dass die Kampagne gegen die Beschneidung auch Wirkungen im restlichen Irak zeitigen. Man ist sich sicher, dass Frauen im ganzen Land unter dieser Praxis leiden, nur traue man sich im Süd- und Zentralirak noch nicht, darüber zu sprechen. »Diese Gesellschaft fußt wie in allen islamischen Ländern auf der Unterdrückung von Frauen«, sagt Suaad Abdulrahman. »Ewrst wenn wir dies ändern, wird sich unser Traum von einem Leben in Demokratie und Freiheit verwirklichen.«