Schwarzes Rätsel

Das Phänomen Merkel von stefan wirner

Sie kam wie ein Nichts aus dem Nichts. Plötzlich war sie da, und jetzt werden wir sie so schnell nicht mehr los. Bis vor kurzem war durchaus nicht sicher, dass Angela Merkel die Kanzlerkandidatin der CDU werden würde. Noch im Februar sah der Spiegel sie »im Abstiegskampf«, sie sei »zu zögerlich, zu wolkig, zu missmutig«. Viele glaubten, dass Roland Koch oder ein anderer Konkurrent der Finsternis im letzten Moment seine Bereitschaft zur Führung Deutschlands kundtun und Merkel auf den Fraktionsvorsitz im Bundestag verweisen würde. Doch dazu kam es nicht, weil Schröder im Mai überraschend Neuwahlen ausrief. Und nun sinnieren alle über Merkel.

Niemand ist begeistert von ihr. Nirgends taumeln fanatisierte Anhänger durch die Straßen, nirgends ist, zum Glück, auch nur der Hauch einer Aufbruchstimmung spürbar. Merkel verspricht keine neue Epoche, sondern den üblichen Aufschwung, eine Mehrwertsteuererhöhung und die Einschränkung des Kündigungsschutzes. Es reicht weder zur Empörung noch zu ekstatischer Begeisterung. Eher macht sich bei ihren Auftritten Peinlichkeit breit.

War sie nicht bereits als Bundesumweltministerin von 1994 bis 1998 eine Art Naturkatastrophe? Hat sie nicht damals schon ihre überragende Kompetenz unter Beweis gestellt, als sie über die Castor-Transporte sagte, das sei eben wie beim Backen, manchmal falle ein wenig Mehl daneben? Hat sie in ihrem Buch »Der Preis des Überlebens« nicht fabelhafte Sätze niedergeschrieben wie: »Umweltschäden sind allerdings auch von so bedeutender Natur, dass der Staat hier eine größere Verantwortung als zum Beispiel im sozialen Bereich hat.« War sie nicht damals schon unwiderstehlich, mit ihrem Duckmäusertum gegenüber Helmut Kohl, das jäh umschlagen konnte in ein Dreikäsehochauftreten, wenn sie auf Vertreter von Umweltgruppen traf?

Mancherlei Gründe werden nun für ihren Erfolg genannt. Die Zeit glaubt ihr Geheimnis darin zu erkennen, dass sie den »Ossi als Wessi« darstelle, sie sei »ein sich selbst und alle anderen überwindender antagonistischer Widerspruch«. Bald aber werde man sie erkennen, »die nette gesamtdeutsche Kanzlerin, die rücksichtslos durchregiert«. Die Onlineausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meint, dass die Menschen Merkel zwar keine »Zuneigung«, aber immer mehr »Respekt« entgegenbrächten. Mit ihr sei eine »Atmosphäre der Ernsthaftigkeit« eingekehrt. Für den Spiegel hingegen hat sie den »Abstiegskampf« gewonnen und ist zur deutschen Maggie Thatcher avanciert, zum »eisernen Mädchen«.

Doch während noch über das Phänomen Merkel gerätselt wird, die einfach zur rechten Zeit am rechten Ort war, ist längst offenkundig, wer ihr in Zukunft sagen wird, was sie zu tun hat. In der vorigen Woche traf sie sich zu einer vertraulichen Runde mit Vertretern der Wirtschaft; u.a. sollen Vorstandsvorsitzende von Daimler-Chrysler, von Siemens, Thyssen-Krupp, Abgesandte von Bosch, BASF, Eon und der Lufthansa dabei gewesen sein. Worüber nicht gerätselt werden muss: Die Führungsriege der deutschen Industrie, Merkels eigentliches »Kompetenzteam«, dürfte ihr schon einmal eingebleut haben, wie das Land »durchzuregieren« sei.