Viel zu viele Autos

Der Führungskrise bei Daimler-Chrysler liegt die Tatsache zugrunde, dass die Konkurrenz in der Branche zu groß geworden ist. von georg fülberth

Als im Jahr 2004 die Belegschaft bei Daimler in Sindelfingen genötigt wurde, Lohneinbußen hinzunehmen, und dafür eine Beschäftigungsgarantie für einige Jahre erhielt, hieß es, sie sei zuvor verwöhnt worden. Man müsse doch nicht in jeder Stunde fünf Minuten lang pinkeln, bloß weil die IG Metall unter Franz Steinkühler das früher einmal herausverhandelt hatte. Daraufhin konterte die Gewerkschaft, die Manager seien überbezahlt und sollten gefälligst ein bisschen kürzer treten.

Kurz danach ging es bei Opel in Bochum rund. Auch hier waren einerseits angeblich die Löhne zu hoch, andererseits wurde Klage geführt über die Rambo-Manieren des US-amerikanischen Managements.

Bei Volkswagen hieß es in diesem Jahr, die Mitbestimmung sei schuld; der Staat habe zu viel zu sagen. Und dann die Sache mit der Brasilianerin.

Jetzt wieder Daimler-Chrysler. Der Vorstandsvorsitzende Jürgen Schrempp sei größenwahnsinnig gewesen, las man. Bei Mercedes musste Eckhard Cordes gehen, weil der Smart Mängel habe. Nunmehr wird gemunkelt, längst schon hätten die Hedgefonds das Sagen, und wer unter ihrem Diktat nur noch den Aktienkurs im Auge habe, denke nicht mehr genug an die Belegschaft und die langfristigen Perspektiven des Werks. Am Ende gelte die Devise »Nach uns die Sintflut«: Die Manager bedienen sich, indem sie im für sie besten Moment ihre Aktienoptionen wahrnehmen. Das nennt man Insidergeschäfte.

Gut, das ist der Rauch. Wo ist das Feuer? Der Versuch einer Antwort lautet: Es gibt zu viele Autos.

Damit kein Missverständnis entsteht – der Pkw ist für viele heute ein unentbehrliches langfristiges Gebrauchsgut geworden. Wer keinen Führerschein hat, braucht sich um viele Jobs gar nicht erst zu bewerben. In den nächsten Jahrzehnten wird die Zahl der Autos nicht ab-, sondern zunehmen, national und global. Dennoch sind es jetzt schon zu viele, nicht nur aus der Sicht der Umweltschützer (die wollen wir hier ausnahmsweise vernachlässigen), sondern des Kapitals. Es handelt sich nämlich um einen Fall von Überakkumulation.

Um zu erklären, was das ist, müssten wir jetzt Marx heranziehen, aber das soll der Spiegel machen. Wir begnügen uns mit Joseph Alois Schumpeter (1883 bis 1950). In seiner »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« aus dem Jahr 1911 führte der damals 29jährige den Begriff des »Unternehmergewinns« ein. Der entsteht, wenn es einem Kapitalisten gelingt, ein völlig neues Produkt auf den Markt zu bringen. Für dieses hat er zunächst ein Monopol, das ihm einen extragroßen Profit beschert. Dieser Unternehmergewinn wird in dem Maße kleiner, in dem Konkurrenten in denselben Markt eindringen, und ganz am Ende, wenn das neue Gut allgemein gebräuchlich ist, wirft es nur noch einen durchschnittlichen Profit ab, der nicht höher ist als ein Zins.

Der Übergang von der ersten zur zweiten Phase erfolgt nicht harmonisch, sondern in der Regel durch eine Krise. Wenn eine Ware hochprofitabel ist, steigen nämlich immer mehr Investoren ins Geschäft ein, und eines Tages sind es zu viele: Das Kapital bringt nicht mehr genug ein, wird vernichtet oder ergreift die Flucht.

Die Länge dieser Zyklen ist unterschiedlich. Handelt es sich um so genannte strategische Leitsektoren, dann können sie sich über mehrere Jahrzehnte halten. So war es im 19. Jahrhundert mit dem Eisenbahnbau. Am Ende aber war dort zu viel investiert worden, es entstand eine Blase, und im Jahr 1873 kam es zum Krach. Danach wurden keineswegs die Schienen aus dem Boden gerissen, das Netz wurde sogar erweitert, aber der Eisenbahnbau stellte keine Anlagesphäre mit Extraprofiten mehr dar.

Die Automobilindustrie mit ihren Zulieferern war, neben der Chemie- und der Elektrobranche, einer der drei strategischen Leitsektoren des 20. Jahrhunderts. Sie wird nicht untergehen und nicht schrumpfen, aber die Zuwächse werden unter zu vielen Konkurrenten aufgeteilt und deshalb pro Firma geringer. Sollen die alten Profitraten gehalten werden, greift das Kapital zu allerlei Tricks, und das geschieht gerade.

Da wäre zunächst einmal die Kostensenkung. Ignacio López hat das in den neunziger Jahren bei Opel und VW vorgemacht, zu Lasten der Zulieferer. Edzard Reuter probierte es bei Daimler mit einer Ausweitung über die Autobranche hinaus: Das Unternehmen sollte zu einem Technologie-Mischkonzern werden. So wurde Daimler auch zu einem Rüstungsgiganten – und der Mischmasch dem Chef als Defaitismus in Sachen Auto übel genommen. Ein weiterer Weg ist die Methode Schrempps, das Aufkaufen der Konkurrenten. Schließlich versuchten viele Firmen, ihre Produktpalette zu erweitern: Wer zuvor auf Nobelkarossen spezialisiert war, versuchte es nunmehr auch mit Mittelklasse- und Kleinwagen und umgekehrt.

All diese Strategien doktern aber nur an den Symptomen herum, ohne die Ursache, die Überakkumulation, beseitigen zu können. Es steckt zu viel Kapital in der Branche, und dieses macht sich gegenseitig Konkurrenz. Dabei kann es durchaus Gewinner geben, in Deutschland derzeit BMW und Ford, in den USA Chrysler zu Lasten von General Motors. Insgesamt ist die Branche aber noch nicht einmal ein Nullsummenspiel. Die Einbußen der Verlierer sind größer als das Plus der Expansiven.

Das strukturelle Problem wird durch aktuelle Ärgernisse verschärft: den hohen Ölpreis einerseits, die Nachfrageschwäche wegen der jahrelangen Dämpfung der Arbeitseinkommen andererseits. So liegt es eben nicht nur an den technischen Mängeln, wenn der Smart sich so schlecht verkauft und es insgesamt im Bereich der Mittelklassewagen nicht gut läuft. Bezeichnend ist, dass es »ganz oben« einen besseren Absatz gibt, aber das ist eben insgesamt ein vergleichsweise schmales Segment. Außerdem schlägt sich auch auf die Autobranche die neoliberal verursachte Nachfrageflaute nieder. Es kann nicht mehr das gesamte dort gebundene Kapital produktiv eingesetzt werden, deshalb abenteuert es spekulativ. Das ist die Stunde der Hedgefonds, der Aktienoptionen für Manager und offenbar ebenso der Insidergeschäfte.

Letztlich kommt es auch zur Kapitalvernichtung, aber das ist eigentlich ein beschönigender Ausdruck. Wenn Kapazitäten zurückgefahren werden, dann sind es in erster Linie Arbeitsplätze, die draufgehen. Selbst Lohnzugeständnisse der Belegschaften erweisen sich langfristig als unwirksam.

In Sindelfingen wird es wohl doch zu betriebsbedingten Kündigungen kommen. Allerdings werden Abfindungen gezahlt werden müssen, denn 2004 war das anders vereinbart. Die Shareholder juckt es wahrscheinlich wenig, bisher war die Daimler-Aktie ja unterbewertet. Deshalb haben sich in der letzten Zeit einige institutionelle Anleger eingekauft, die von künftigen Kurssprüngen zu profitieren hoffen.

Die Einbrüche in der Gesamtwirtschaft, die durch den Ausfall eines strategischen Leitsektors entstehen, können kompensiert werden, wenn ein anderer auftaucht. Was könnte das sein? Die IT-Branche ist es vielleicht doch nicht, denn hier war ja schon im Jahr 2001 eine Überakkumulation festzustellen. Warten wir also ab. Und schweigen wir von Cordes, Schrempp und Zetsche.

Interessanter wäre es, sich einmal grundsätzlicher über das Phänomen der Überakkumulation Gedanken zu machen, nicht nur in der Automobilindustrie. Dies scheint eines jener Gebrechen des modernen Kapitalismus zu sein, aus denen sich manches erklären lässt, was uns sonst nur absurd erschiene.