Aufschrei in Bildern

Comics haben in der Türkei eine große gesellschaftliche Bedeutung. Mit dem Herausgeber der wichtigsten Satirezeitung, Penguen, traf sich andreas michalke

Als ich einem Freund in Deutschland türkische Comic-Magazine zeigte, die ich aus dem Urlaub mitgebracht hatte, war seine spontane Reaktion auf die aggressive und vulgäre Bilderflut: »Das ist aber schon eher für ungebildete, schlichte Gemüter, oder?«

Hätte er etwas genauer hingeschaut, wäre ihm die enorme Textmenge aufgefallen. Textmasse im Comic bedeutet überall auf der Welt das Gleiche: Die Zeichner haben etwas zu sagen, und sie sind doppelt begabt. Und die Leser müssen bereit sein, dieses komplexere Zusammenspiel von Wort und Bild zu erfassen.

So einfach, wie mein Freund meinte, kann die Sache also nicht sein. Meine uneingeschränkte Begeisterung für türkische Comics speist sich aus genau diesen beiden Komponenten: der radikalen grafischen Aggressivität und den viel versprechenden überbordenden Textmengen.

Lesen und verstehen kann ich diese Comics leider trotzdem nicht. Es gibt also viel zu fragen, als wir Metin Üstündag, den Herausgeber der in Istanbul ansässigen Satirezeitung Penguen, in den Redaktionsräumen treffen. Penguen ist heute neben der Zeitschrift LeMan, aus der sie hervorgegangen ist, die wichtigste Comic-Zeitung der Türkei. Die wöchentlich erscheinenden Zeitungen mit Auflagen zwischen 30 000 und 60 000 Exemplaren werden ausschließlich am Kiosk verkauft. Zusätzlich veröffentlichen Penguen und LeMan auch noch jeden Monat die Comic-Magazine Lombak, Kemik und L-Manyak, außerdem die feuilletonistischen, humoristischen Zeitschriften Hayvan und Kaçak Yayın.

Metin Üstündag ist 40 Jahre alt und selbst ein berühmter Cartoonzeichner. Mit seinen langen, lockigen schwarzen Haaren und seinem wachen Blick vereint er in seiner Erscheinung den Humoristen und den respektierten Chef einer jungen Zeichnertruppe. Leute, von denen er sagt: »Gäbe man ihnen ein Maschinengewehr in die Hand, würden sie es benutzen, aber sie haben den Zeichenstift gewählt.« Die Zeichner von Penguen rekrutieren sich aus den Reihen der eigenen Leserschaft. Und wie in einem Handwerksbetrieb lernen dann Lehrlinge von Meistern.

Das Prinzip übernahm Üstündag vom Altmeister Oguz Aral, Künstlername »Oz«, dem Atatürk der türkischen Comic-Szene. Oguz Arals Talent und Verdienst bestanden darin, den eigenen Nachwuchs auszubilden. Als Chef von Gir Gir, der ersten türkischen Satirezeitung, drängte er die Zeichner dazu auszudrücken, was in ihrem Innersten ist. Sie sollten lernen, ihr Thema zu finden.

Allerdings räumt Üstündag ein: »Wir haben auch Angst vor Oz Aral gehabt. Er hat uns viel arbeiten lassen. Aber es war das größte Glück, das mir jemals widerfahren ist. Vier Monate unter Oz Aral waren besser als vier Jahre an der Universität. Er wusste, wie man türkische Menschen zum Arbeiten bringt.« Und er fügt hinzu: »Wir wollten ihm beweisen, dass wir gut sind. Er hat uns zum Beispiel einen Cartoon immer wieder in verschiedenen Formaten zeichnen lassen. Es war harte Arbeit.«

Erst in den letzten Jahren der Zusammenarbeit hätten sich die Zeichner mit ihm angefreundet und auch nach der Arbeit zusammen mal etwas getrunken. In einem solchen Moment habe Oz Aral einmal zugegeben: »Es tut mir leid, dass ich so streng zu euch war. Ich bin stolz auf euch. Wäre ich nicht so streng gewesen, wärt ihr nicht so gut geworden.«

Üstündag, der bei Gir Gir als politischer Karikaturist anfing, erzählt, dass Aral ihm damals den Rat seines Lebens gab: »Lass das mit der politischen Karikatur, wenn Liebe und Beziehung deine Themen sind.«

Oz Aral nahm unzählige Zeichner in seine Reihen auf, indem er zum Beispiel eine Seite einrichtete, die von Nachwuchskünstlern gestaltet wird. Ein Zeichner, der dort ein Jahr lang veröffentlicht hatte, bekam die Chance, in den festen Stamm übernommen zu werden. Ein Prinzip, das bis heute in den türkischen Satirezeitungen beibehalten wird. In deutschen Satire- oder Comic-Magazinen hingegen pflegt man seine zehn Zeichner und macht die Tür zu.

Oz Aral aber bildete so viele Leute aus, dass die Redaktionsräume von Gir Gir bald zu klein wurden. Konsequenterweise entstand in den neunziger Jahren das Magazin LeMan. Als dieses neue Magazin später etabliert war und sich zunehmend kommerzialisierte, gründete Üstündag die Zeitung Penguen, bei der die strukturelle Unabhängigkeit bis heute eine zentrale Bedeutung hat. So werden etwa aus Prinzip keine Anzeigen ins Heft genommen, um nicht von Werbekunden abhängig zu sein. Seine Devise formuliert Üstündag so: »Zwischen uns und die Leser stellen wir keine Cola-Reklame.«

Glaubwürdigkeit ist wichtig für eine junge, unzufriedene Leserschaft, die sich ein anderes Leben wünscht. Und so sind auch trotz der stilistischen Vielfalt formale Fragen nebensächlich. Die Kommunikation mit den Lesern und deren Anspruch, sich wieder erkennen zu können, stehen im Mittelpunkt.

Die türkischen Zeichner sehen sich in der Tradition der Volks- und Klagesänger, ihr Humor ist immer auch Kritik an den Verhältnissen. Und auch eine Art »sozialer Dienstleistung«, wie Üstündag es nennt: »Wir reden über die Dinge, über die in der Familie und der Schule nicht geredet wird.« Die ersten drei Seiten von Penguen sind jeweils politischen Themen vorbehalten. Eine Leserschaft, die diese politische Angriffslust und radikale grafische Aggressivität belohnt, erscheint mir als deutschem Comic-Zeichner nahezu ideal. Die Frage nach den Grenzen der Belastbarkeit der Leser beantwortet Üstündag so: »Als Zeichner sind wir grundsätzlich auf der Seite des Volkes. Als wir aber damit begannen, anstatt der Politik die Gesellschaft selbst aufs Korn zu nehmen, ist unsere Auflage gesunken. Aber dann gewannen wir eine neue Leserschaft, und die will das lesen, was provoziert, was die Leute aufregt.«

Doch man versucht, der kritischen Absicht mit anderen Mitteln als denen der klassischen politischen Karikatur gerecht zu werden. Vor allem mit Glaubwürdigkeit. Mit Kindern spricht man nicht in der Sprache der Eltern; Penguen spricht zu seinen Lesern, wie man unter Vertrauten spricht, und sieht sich nach wie vor in der Tradition Oguz Arals, der der Meinung war, dass alles, was es im Leben gibt, auch Gegenstand von Comics sein kann. Humorimporte aus anderen europäischen Ländern gibt es allerdings nicht. Üstündag erklärt das so: »Der türkische Humor ist eigenwillig. Der fremde Humor ist nicht so herzerwärmend. Unsere Zeichnungen sind Aufschreie, sie treffen ins Herz.«

Vor zwei Jahren starb Oguz Aral. Zehn Jahre zuvor hatte er aufgehört zu zeichnen, nachdem ihn ein neuer Eigentümer von Gir Gir vor die Tür gesetzt hatte. Seine letzten Jahre widmete er vor allem dem Alkoholgenuss. Im Andenken an diesen Godfather der kritischen Satire hat Penguen ihm im Juli dieses Jahres im Cihangir-Park ein würdevolles Denkmal gesetzt. Als wir uns verabschieden, überhäuft uns Metin Üstündag mit Penguen-Sammelbänden und T-Shirts. Unser Angebot, die T-Shirts zu bezahlen, lehnt er entschieden ab: »Wir verkaufen unsere T-Shirts nicht. Das war der Grund, warum wir uns von LeMan getrennt haben.«

Andreas Michalke ist Comic-Zeichner und erstellt für die Jungle World den wöchentlich erscheinenden Strip »Bigbeatland«.