Einmal Rio und zurück

Besuche in Fresenhagen und Berlin-Kreuzberg. Von Thies Marsen

Eine linke Demonstration ohne Ton Steine Scherben-Songs vom Lautsprecherwagen – das war jahrzehntelang in der Bundesrepublik kaum vorstellbar. Scherben-Songs lieferten noch den Soundtrack zum Widerstand, als sich die Band längst vom plakativen Agitprop entfernt hatte. Und auch noch nachdem sich die Scherben 1985 schließlich aufgelöst hatten und ihr ehemaliger Frontmann Rio Reiser als »König von Deutschland« den Flirt mit der Musikindustrie wagte. Links und radikal waren die frühen Texte der Scherben, und zwar so eindeutig, dass viele Songs bis heute nicht im Radio gespielt werden und eine Vereinnahmung der Band durch den Mainstream eigentlich undenkbar erscheint. Eigentlich.

Doch im September 2003 schrieb der Rolling Stone: »Keine Sprachmacht für niemand – Ton Steine Scherben waren links und standen für Rock’n’Roll. Nun wird ihr Sänger Rio Reiser seltsamerweise posthum zum Symbol volksdeutscher Sprachsäuberei erklärt.« Und in der Zeitschrift testcard wusste Martin Büsser über die Familie von Rio Reiser zu berichten: »Auch dort wird freudig daran gebastelt, das Bild von Rio Reiser als schwulem, linken Rebellen zu dem eines Volks- und Heimatsängers umzudeuten, auf dass jene Band, deren Songs lange Zeit von den Radiostationen nicht gespielt wurden, weil der Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit bestand, endlich in den Kanon ›deutscher Popkultur‹ aufgenommen werden kann, um dort neben Nena, Grönemeyer, Müller-Westernhagen und Lindenberg als eigenwertig nationales Liedgut in ganz neuem Licht zu erstrahlen.«

Diese Berichte waren für den Journalisten Thies Marsen vom BR-Jugendmagazin »Zündfunk« Anlass, dem Erbe der Scherben nachzuspüren. 23 Jahre nach der Gründung der Band, 18 Jahre nach ihrer Auflösung und sieben Jahre nach dem Tod Rio Reisers besuchte er die Tatorte der Scherben-Geschichte: Berlin-Kreuzberg und Fresenhagen in Schleswig-Holstein.

Vor 30 Jahren stand in dem Weiler Fresenhagen in den Feldern Nordfrieslands kurz vor der dänischen Grenze eine Hofruine. Heute findet der Reisende dort ein hübsch renoviertes, L-förmiges Reetdachschmuckstück mit niedrigen weiß getünchten Wänden. An dem weißen, halb hohen Lattenzaun, der vor dem Anwesen entlangläuft und irgendwo einfach aufhört, steht ein Schild: »Liebe Gäste. Wenn ihr das Grab von Rio Reiser besuchen möchtet, einfach rechts ums Haus gehen. Für Hausbesichtigungen stehen wir bevorzugt zwischen 10 und 18 Uhr, an Feiertagen auf Anfrage zur Verfügung. Bitte klingeln.«

Betätigt man die Klingel, tritt Jan aus der Küchentür und empfängt den Besucher. Dünn und schlaksig, lange blonde Haare, ein bleicher, etwas ungesunder Teint. Jan ist 1994 aus dem Sauerland nach Fresenhagen gekommen, wollte damals Schallplatten abholen und blieb hängen. »Ich war erst Fahrer und Adjudant von Rio«, erzählt er. »Das heißt, ich hab’ mich um alles gekümmert, hab’ die Hotels gebucht und unterwegs immer für Rios leibliches Wohl gesorgt. Später waren wir dann auch privat zusammen.«

Jan war es auch, der Rio am 20. August 1996 leblos in seinem Bett fand – innerlich verblutet an einer geplatzten Schlagader, sagt Jan. Rios Erben haben Jan Asyl gewährt, dafür kümmert er sich um Haus, Garten und Grab.

Rechts vorbei am Haus, unter einem Apfel- und einem Ahornbaum liegt Rios Grab. Seine Brüder betonen gerne, dass es das einzige Grab sei, das in Deutschland auf Privatgelände genehmigt wurde – außer dem von Franz Josef Strauß. Ein kleines Areal, umrahmt mit einem weißen Zaun, davor eine weiße Bank. Durch einen Lorbeerbogen kann man die Grabstelle betreten, doch die meisten, die hierherpilgern, bleiben erst einmal auf der Bank sitzen, erzählt Jan. »Die trauen sich gar nicht ans Grab, rauchen erst mal eine Zigarette. Manche weinen, manche singen auch Rio-Lieder.«

In goldener Schrift steht »Rio« auf dem Grabstein, darüber ein Kreuz, ein Herz und ein Anker – die Symbole für Glaube, Liebe, Hoffnung, zu seinen Lebzeiten Rios Firmenlogo. Nach diesem Motto sei Fresenhagen auch stets geführt worden, sagt Jan. »Glaube, dass irgendwann das nächste Geld kommt. Hoffnung, dass der Gerichtsvollzieher mal nicht kommt. Und eben sehr viel Liebe.« Auf dem Grabstein liegen allerhand Devotionalien: ein Ring, Muscheln, Blumen, manchmal auch Kassetten. Einmal im Monat sammelt Jan all das ein, was die Fans hier hinterlassen haben, und verstaut es in einer Kiste auf dem Dachboden.

Punk, Pathos

und Politparolen

Ich wurde 1970 geboren. In dem Jahr, in dem Ton Steine Scherben gegründet wurden und ihren legendären ersten Auftritt absolvierten: auf der Ostseeinsel Fehmarn, auf einem von Beate Uhse gesponsorten »Festival der Liebe«. Jimi Hendrix spielte dort zum letzten Mal live, und das Festival endete in Flammen, weil die Veranstalter mit der Kohle durchbrannten und sich das Publikum vom »Macht kaputt, was euch kaputt macht« der Scherben inspirieren ließ.

Ich hänge zwar eine Generation hinterher, so wie ich auch für den Punk eigentlich zu spät dran war. Und dennoch: Ohne die Scherben wäre ich wahrscheinlich ein anderer Mensch geworden – auch wenn das jetzt arg pathetisch klingt. Das hat weniger mit den Polittexten zu tun, sondern eher mit den Kinderplatten, die die Band produzierte und mit denen ich aufgewachsen bin: »Herr Fressack und die Bremer Stadtmusikanten« und natürlich »Teufel hast du Wind« – eine Geschichte von rebellierenden Sklaven, meuternden Matrosen und der Suche nach dem Inselglück in der Südsee. Dank »Teufel hast du Wind« habe ich schon früh gelernt, dass das Leben als vogelfreier Pirat viel erstrebenswerter ist, als Matrose auf einem Kaufmannsschiff zu sein. Und dass der beste Weg, das Paradies zu erreichen, darin besteht, den Kapitän und die Pfeffersäcke gemeinsam über Bord zu werfen.

»Keine Macht für niemand« war dann die erste oder zweite Platte, die ich mir von meinem eigenen Geld kaufte. Auch Anfang der achtziger Jahre, über zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung die ideale Teenager-Musik, voller Wut und voller Sehnsucht nach Liebe, nach einem anderen Leben als dem der Eltern, nach Revolution und Weltverbesserung. Eine wunderbare Mischung aus Punk, Pathos und Politparolen.

Gemeinsam leben, gemeinsam arbeiten, selbstbestimmt und frei von Chefs – so wollten die Scherben Musik machen, zunächst in Berlin-Kreuzberg, ab 1975 dann in ihrer »Freien Republik Fresenhagen« in der schleswig-holsteinischen Provinz. Zehn Jahre hielten sie in Nordfriesland durch, dann löste sich die Band auf, nurmehr Rio und Lanrue blieben in Fresenhagen und machten weiter gemeinsam Musik.

Nun ist Rio schon ein paar Jahre tot, und vom Flair der Kommune, das die Landhaus-Ruine einst umwehte, ist nicht mehr viel geblieben. Inzwischen heißt das Anwesen Rio-Reiser-Haus, wurde edel und durchaus geschmackvoll renoviert. Es gibt heimelige Gästezimmer, in die sich jeder für 25 Euro die Nacht einmieten kann und die nach Rio- und Scherben-Songs benannt sind: »Mitten in der Nacht«, »Komm, schlaf bei mir« oder »Lass uns ein Wunder sein«.

Ein Trakt bleibt Rio Reisers Familie vorbehalten – wobei mit Familie hier die Familie Moebius gemeint ist, also seine zwei Brüder Gert und Peter sowie seine Mutter Erika. Ein Raum – das einstige Wohnzimmer Rio Reisers – dient, original belassen, als kleines Museum. Und noch ein Relikt aus rebellischen Tagen ist erhalten geblieben: Im Rio-Reiser-Haus duzt jeder jeden.

Es ist zweifellos schön hier in den Feldern Nordfrieslands, doch es hat eher was von Ferien auf dem Bauernhof als vom Traum des Lebens im Kollektiv. Trotzdem glaubt sein Bruder Peter Moebius: »Es entspricht jetzt mehr dem Traum von einer Freien Republik Fresenhagen, den Rio und Lanrue hatten, als zu der Zeit, als sie hier waren. Man hat hier immer umsonst und draußen gewirtschaftet. Hier waren immer Leute, die dachten, Geld fällt vom Himmel. Und ich weiß, dass Rio sich oft geärgert hat, wenn wieder alles weg war.« Jetzt müssten die Gäste für ihre Zimmer halt zahlen, aber das sei auch gerechtfertigt, schließlich koste die Erhaltung des Rio-Reiser-Hauses viel Geld, betont Moebius. Aber: »Wenn wir hier feiern, ist eben der Punk aus Dresden oder Stuttgart genauso hier wie der Bürgermeister von Stadum oder der Kaufmann aus Leck.« War das also der Scherben-Traum: Gemeinsam mit Bürgermeister und Kaufmann zu feiern? Sollten die nicht über Bord geschmissen werden?

Scherben in Bewegung

Ton Steine Scherben schöpften die Kraft ihrer Anfangsjahre aus einer Bewegung, deren Teil sie waren und als deren Teil sie sich verstanden. Nicht unbedingt als Band, sondern jeder einzelne von ihnen. Rios frühe Texte über Straßenkampf, Schwarzfahren und Teenager-Frust im stickigen Mief der Endsechziger waren oftmals Gesprächsprotokolle der Diskussionen in der Bewegung. »Als die Scherben die Bewegung hinter sich ließen und Kreuzberg entflohen, war das Feuer ja auch schnell verbraucht«, sagt der Schlagzeuger der ersten Stunde, Wolfgang Seidel.

Die Scherben flohen vor der Bewegung nach Fresenhagen, so lautet die Legende der offiziellen Scherben-Geschichtsschreibung, weg von Berlin, weg von Kreuzberg, weg von der Linken. So steht es im Scherben-Geschichtsbuch »Keine Macht für niemand« des ehemaligen Bassisten Kai Sichtermann. Und im Programm des Rio-Reiser-Hauses trägt eine Veranstaltung gar den Titel: »Rio Reiser – von der Linken vereinnahmt.« Als ob die Scherben keine Linken gewesen seien. »Wie will man sich denn dann die Lieder der Scherben erklären?« fragt sich nicht nur Wolfgang Seidel. »Stand da Andreas Baader mit gezücktem Joint hinter Rio Reiser und hat ihn zu diesen Texten gezwungen?«

Eine Geschichte, die so ähnlich klingt, wird übrigens immer wieder kolportiert, gerne in der taz, zuletzt erst wieder im Bayerischen Rundfunk: Dass die Rote Armee Fraktion bei Rio ein Lied bestellt habe und die Scherben dieses in Form von »Keine Macht für niemand« sozusagen auch geliefert hätten – der Song sei aber bei den Ideologie-Puristen der RAF auf Ablehnung gestoßen. Es gibt aber auch Leute, die die Geschichte ganz einfach für einen ziemlichen Schmarrn halten.

Und auch an der Legende von der Flucht der Scherben vor der Linken aus Berlin-Kreuzberg nach Fresenhagen darf gezweifelt werden. Vermutlich flohen Ton Steine Scherben eher vor den eigenen Ansprüchen. Mit ihrem Versuch, der kleinbürgerlichen Umgebung zu entkommen, der patriarchalischen Kleinfamilie, dem autoritären Schulsystem, der Schikane und Ausbeutung im Betrieb, mit ihrem Versuch, so zu leben, wie sie es sich vorstellten, handelten sie sich in Kreuzberg eine Menge Probleme ein: Ihre Wohnung am Tempelhofer Ufer war ein offenes Haus – jeder konnte kommen, gehen oder bleiben. Jeder konnte hier schlafen und essen, leben und lieben.

Und regelmäßig war auch die Polizei zu Gast. Zeitweise wohnten 20 Leute in der Wohnung, wirklich gezählt hat sie niemand. Sicher ist nur: Geld, das im real existierenden Kapitalismus nun einmal zum Leben gebraucht wird, brachte kaum jemand mit. Das Nötigste zum Lebensunterhalt organisierte man sich in den Geschäften der Umgebung. Doch für die Bandmitglieder war die Situation bald unerträglich. All die Trebegänger und Mitläufer aber vor die Tür zu setzen, war mit der Grundeinstellung der Scherben unvereinbar. Also ergriffen sie selbst die Flucht. »Es war eine Flucht vor sich selbst«, sagt Seidel, der schon während der Berliner Zeit der Scherben lieber in der eigenen Wohnung lebte als im Chaos am Tempelhofer Ufer und schon vor dem Umzug nach Friesland ausgestiegen war.

»Es ist ein Frieden«

In dem halbverfallenen Haus in Fresenhagen hatten sich die Berliner Probleme dann schnell erledigt. Hier war das Leben hart, das Haus musste renoviert werden, Klautouren durch die örtlichen Tante-Emma-Läden waren kaum realisierbar. In Fresenhagen blieb nur der harte Kern der Scherben-Familie übrig. »Die haben sich hier auch groß gehungert«, erzählt Rios Mutter Erika Moebius.

Wenn sie in Fresenhagen zu Besuch ist, führt sie Gäste des Hauses gerne persönlich in Rios einstiges Wohnzimmer, sozusagen den Hausschrein. »Das haben wir so gelassen, wie es war, als er ging.« Ein buntes Sammelsurium ist in dem kleinen niedrigen Raum verteilt: ein Gitarrenhals, eine Panflöte und ein weißes Klavier, Puppenköpfe, ein Indianer mit Pferd, jede Menge Bücher, von Lion Feuchtwangers »Erfolg« bis zur gesamten Karl-May-Ausgabe – nur »Winnetou 1« fehlt. »Es wird viel geklaut hier«, sagt Erika Moebius. »Neulich waren junge Leute da, die wollten durchaus ein Souvenir haben. Ob ich nicht wenigstens einen Kugelschreiber hätte, mit dem Rio geschrieben hat. Musste ich sagen: Tut mir leid, hab’ ich nicht. Da musste man aufpassen. Zapzerap haben die was mitgenommen.«

Alle Arten von Besuchern kämen nach Fresenhagen, um Rios einstige Wohnstätte zu besuchen, erzählt Erika, »seriöse Leute und auch Punks – und die vertragen sich alle. Es ist ein Frieden, es ist wirklich ein Frieden.« Damit, dass die einstige Freie Republik Fresenhagen der Scherben zu einer Rio-Gedenkstätte geworden ist, hat seine Mutter erwartungsgemäß kein Problem. »Die Leute sind glücklich damit, dass sie da so ’ne Ikone haben, und warum soll ich ihnen das nicht lassen? Viele sind von seinen Liedern so angesprochen. Es waren auch schon Kranke da, die gesagt haben, wir sind durch Rio gesund geworden, wirklich!«

Starkult und Totenverehrung für den Sänger einer Anarcho-Band, der es zuerst einmal um Selbstbefreiung, den Kampf gegen Autoritäten und Ikonen ging? Aus der Musik und den Texten der Scherben müsste man doch eigentlich vor allem eines lernen: dass man keine Idole und Führer braucht, sondern dass man die eigene Sache in die eigene Hand nehmen soll. Ob Rio einverstanden wäre mit der Gedenkstätte? Keiner kann es nachprüfen.

Und der Rest der Scherben ist in alle Winde verstreut. Ex-Percussionistin Britta Neander machte bis zu ihrem Tod 2004 mit ihrer Band Britta weiterhin Musik. Ex-Saxophonist und Manager Nikel Palat alias Paul Panzer vertreibt Platten in Hamburg. Schlagzeuger Funky K. Götzner versuchte sein Glück vergeblich mit der Revivalband »Neues Glas aus alten Scherben« und arbeitet ansonsten als Versicherungsvertreter, Ex-Bassist Kai Sichtermann hat ein Buch über die Scherben geschrieben, das sich offensichtlich ganz gut verkauft, Ex-Gitarrist Lanrue, der Rio auch bei seiner Solokarriere begleitete und auch nach dessen Tod noch in Fresenhagen wohnte, flüchtete unter ungeklärten Umständen nach Portugal und züchtete dort Zitronen, bis Waldbrände sein Hab und Gut zerstörten. Nur Wolfgang Seidel, der Schlagzeuger der ersten Stunde, ist da geblieben, wo alles angefangen hat, in Kreuzberg.

Roth und Grün

Lichterfelde im Süden von Berlin. Ein grüner Stadtteil auf halbem Weg nach Potsdam. Hier, in der Drakestraße, hat das Rio-Reiser-Archiv seinen Sitz. Rios Bruder Gert Moebius leitet das Archiv. »Wir haben nach Rios Tod überlegt, was wir mit den ganzen Bändern machen können, die da rumliegen, die aber Demos oder nicht produziert waren. Es gab auch Bänder, die nicht veröffentlicht worden sind. Dann war es für uns alle, die Rio gekannt haben, die mit ihm gemeinsam Musik gemacht haben, eine große Aufgabe, diese Dinge zu ordnen.«

Texte, Bilder, Fotos, Videos – immer wieder tauchen neue Sachen aus Rios Nachlass und dem der Scherben auf, erzählt Moebius. Ein Jahr sollte das Projekt dauern, jetzt sind es schon sieben. Längst geht es nicht mehr nur um Rio Reiser und Ton Steine Scherben, sondern um die Hinterlassenschaften einer ganzen Bewegung Anfang der Siebziger. »Das Ganze war ja eine Entwicklung aus der linken Bewegung heraus, die heute bis zu den Grünen geht. Claudia Roth war ja eine Zeit lang Managerin von denen. Das ist eine große Familie, die hier zusammengefunden hat und uns auch hilft, bei der ganzen Recherchearbeit und der Auswertung der Materialien.«

Ach ja, Claudia Roth. Gerne weist die heutige Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in Interviews auf ihre Vergangenheit mit den Scherben hin. Als sie sich 2001 zum ersten Mal zur Vorsitzenden jener Partei wählen ließ, die ein paar Monate vorher den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 mitverantwortete, schloss sie ihre Antrittsrede mit einem Scherben-Zitat: »Ich will ich sein, anders kann ich nicht sein.«

Und wenn sie in einem Zeitungsinterview auf die offensichtlichen Widersprüche zwischen dem, wofür die Scherben damals standen, und dem, wofür die Grünen heute stehen, angesprochen wird, kontert sie mit einem weiteren Scherben-Zitat: »Alles verändert sich.« Nur vergisst sie dabei, dass der Text noch weitergeht: »Alles verändert sich, wenn du es veränderst.« Es heißt ausdrücklich nicht: »Alles verändert sich, wenn du dich veränderst.«

Aber vielleicht spiegelt sich in diesem Missverständnis ja auch einfach nur die Lebenslüge eines nicht unerheblichen Teils der damaligen Bewegung wieder – und zwar sowohl derjenigen, die zu Bhagwan bzw. in die Esoterik-Ecke abdrifteten, als auch derjenigen, die sich der Karriere in Staat und Parteien zuwandten. Die Welt verändert sich eben nicht dadurch, dass man sich selbst ändert. Der einstmals bekämpfte Kapitalismus, insbesondere in seiner deutschen Ausprägung, mit seiner Unterdrückung und Entfremdung, mit seinem Militarismus, seiner Ausgrenzung und seinem Rassismus wird nicht dadurch besser, dass es ein paar seiner einstmaligen Feinde in seine Institutionen geschafft haben.

Doch Bewegungsgewinnlerin Claudia Roth, die irgendwann in der Spätphase der Scherben in Fresenhagen dabei gewesen war, hat nicht nur eine Karriere gemacht, die sie in Partei- und Regierungsämter geführt hat. Sie nimmt sich nun auch das Recht, die Scherben zum eigenen Nutzen ordentlich zu fleddern – zum Beispiel in der »Ultimativen Chart-Show« von RTL mit den »besten deutschsprachigen Hits aus 40 Jahren«, die in Zeitungsmeldungen so angekündigt wurde: »Als besonderes Bonbon singt Michael Schanze mit der Fußball-Nationalmannschaft von 1982 noch einmal ›Olé España‹. Gäste im Studio sind Boxer Axel Schulz und Grünen-Chefin Claudia Roth, die früher die deutsche Band ›Ton Steine Scherben‹ managte. Musik gibt’s von den Prinzen, Pur, Silbermond, Udo Lindenberg und anderen.«

Selbstbefreiung

Ein Kreuzberger Hinterhof am Kottbusser Damm, in einem alten Ballsaal im dritten Stock. Heute werden hier wieder Partys veranstaltet. Vor 35 Jahren nahmen Ton Steine Scherben in dieser Halle mit ihren riesigen Fenstern die erste Single auf, damals noch zu viert: Rio Reiser, R.P.S. Lanrue, Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel.

Kreuzberg war noch weit entfernt von jenem bunten Alternativstadtteil der achtziger Jahre. Die Zeiten waren grau, die Häuser und die Menschen auch. Und wer auffiel, etwa durch lange Haare, hatte nichts zu lachen und musste angesichts wütender braver Bürger schon mal die Beine in die Hand nehmen. Immerhin war der Wohnraum billig, hier im letzten Eck vor dem Reich des Bösen. Und die Wut war groß. Der dreckige Rock’n’Roll der Rolling Stones und anderer Rockbands lieferte das Vorbild. Aber weil die Englischkenntnisse katastrophal waren, schrieb man sich eben seine eigenen Texte auf Deutsch. Und weil keinerlei Infrastruktur vorhanden war, musste man eben Aufnahme, Produktion, Vertrieb, ja sogar Verpackung nehmen und zum Beispiel das Pappcover des ersten Longplayers selbst zusammentackern.

»Die Scherben hatten street credibility«, sagt Wolfgang Seidel. »Wir haben uns nicht rangehängt an irgendeine Bewegung, sondern wir haben gelebt, was wir gesungen haben.« Und auch wenn im Song »Allein machen sie dich ein« irgendjemand im Hintergrund die Textzeile »und du weißt, das wird passieren, wenn wir uns organisieren« mit einem laut gegrölten »In der Partei« ergänzt – die Scherben waren ein ziemlich unorganisierter Haufen, kein dogmatischer Ideologiezirkel. Wie sollte man auch ernsthaft auf die Diktatur des Proletariats hinarbeiten, wenn man tagtäglich riskierte, als Langhaariger von eben jenem durch die Straßen gejagt zu werden. Befreiung bedeutete für die Scherben auch und vor allem Selbstbefreiung: so zu leben, wie man leben will – aber ohne dabei aus dem Auge zu verlieren, dass Selbstbefreiung ohne die Veränderung am großen Ganzen nicht zu haben ist.

Den Text zu »Ich will ich sein« schrieb Rio Reiser schon zu Zeiten von »Keine Macht für niemand«, auch wenn er erst viel später auf einer Scherben-Platte veröffentlicht wurde. »Keine Macht für niemand« und »Ich will ich sein« sind sozusagen die beiden Pole der Scherben-Ideale. Man könnte auch sagen, zwei Seiten derselben Medaille, die Emanzipation heißt: die soziale und die individuelle. Zum »Ich will ich sein« gehört vor allem, dass man sich selbst aussucht, wie man leben will. Zum Beispiel in der selbst geschaffenen Scherben-Familie am Tempelhofer Ufer und in Fresenhagen.

Inzwischen allerdings, so hat man den Eindruck, hat sich die Familie Moebius ihren Rio wieder zurückgeholt aus der selbst gewählten Familie in die angeborene Sippschaft – und damit auch gleich die Geschichte der Scherben. Und diese Geschichte wird nun fleißig entkernt. »In der Fresenhagener Rio-Biografie schrumpft die Geschichte von Ton Steine Scherben auf ein paar Absätze, als quasi Nebenprodukt der Moebius-Familienaktivitäten«, sagt Wolfgang Seidel. »Das Scherben-Kollektiv wird aufgebrochen, Rio herausgehoben und als weitgehend polit- und drogenfreier Rocksänger präsentiert, verbunden mit ein bisschen Häuserkampfromantik.«

Tarot und Flensburger

Mike und Steffi aus Hessen, so Mitte 40, meist in lederner Motorradkluft gekleidet, machen jedes Jahr Urlaub in Fresenhagen. Bei Bauern neben dem Rio-Reiser-Haus, schon seit 1995. »Wir haben damals mal gekuckt, wo Rio so lebt«, erzählt Mike. »Als er noch gelebt hat, haben wir uns nicht getraut. Da wollten wir seine Privatsphäre nicht stören, und nachdem er dann gestorben war, sind wir wieder gekommen.« Wenn sie jetzt da sind, gehen sie jeden Tag an dem langen weißen Zaun des Rio-Reiser-Hauses entlang, rechts am Gebäude vorbei zur Grabstelle. Mit einer Blume und einem Flensburger Pils. »Der Ort hat etwas Mystisches«, sagt Steffi. Und Mike ergänzt: »Das ist ein Ruhepol. Ich kann mit Rio reden, ich kann mit mir reden. Ich kann hier sitzen, kann in die Luft gucken. Ich kann ich sein. Personenkult? Nee. Gedenkstätte? Ja. Hier liegt ein Mensch, der Großes vollbracht hat.«

Doch was mag das Große sein, das in Fresenhagen vollbracht wurde und das es wert ist, mittels einer Gedenkstätte in Gegenwart und Zukunft hinübergerettet zu werden? Im Veranstaltungsprogramm der Gedenkstätte Rio-Reiser-Haus finden sich unter anderem Tarot-Kurse und Goldene-Hochzeits-Feiern von in die Jahre gekommenen Scherben-Fans. Daneben haben sich Rios Erben offenbar vor allem eines zur Aufgabe gemacht: die Förderung des deutschen Liedgutes.

Nicht nur, dass hier neuerdings zweifelhafte Barden wie Stefan Krawczyk auftreten dürfen, der sich auch gerne von CDU-Kreisverbänden einladen lässt, um Programme vorzutragen, die Titel tragen wie: »Ein Deutscher in Deutschland«.

Der Rio-Reiser-Verein, dem Rios Bruder Peter Moebius vorsteht, veranstaltet in Fresenhagen zudem seit einigen Jahren einen Wettbewerb für den besten deutschen Song, der jedes Mal ein bestimmtes Thema hat – 2001 zum Beispiel: »Heimat. Wo bin ich?« Und dieser deutsche Schlager-Grand-Prix wird dann auch noch von der Bundeszentrale für politische Bildung gesponsort, die ansonsten auch schon mal gemeinsam mit Organisationen wie »Deutschland packt’s an« oder der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« Kongresse zum Thema »Marke Deutschland« veranstaltet, wo »junge Führungskräfte von morgen« darüber diskutieren dürfen, wie man »Besitzstandsdenken« und »Reformstau« endlich in den Griff kriegt.

Nicht nur, weil die Bundeszentrale für politische Bildung ebenso wie der gesamte politische Mainstream immer weiter nach rechts wandert, spricht die Zusammenarbeit mit einer solchen staatlichen Institution der Geschichte der Linken im Allgemeinen und der von Ton Steine Scherben im Besonderen Hohn. Mit staatlichen Institutionen hatten die Scherben vornehmlich bei Hausdurchsuchungen, Razzien und Demonstrationen zu tun. Aber mal abgesehen davon – schon nach der Besetzung des Georg-von-Rauch-Hauses 1970 war man sich in der Bewegung einig darüber gewesen, dass man keine staatliche Förderung wolle, um so Selbstzensur und finanzieller Abhängigkeit vorzubeugen.

Von den damaligen Debatten ist freilich nichts mehr übrig geblieben. Im Gegenteil: Nachdem die Grünen in den achtziger Jahren nach und nach in die Rathäuser und Parlamente eingezogen waren, ging es nicht nur für ihre Mandatsträger um staatliche Versorgungsansprüche. In ihrem Windschatten reifte ein ganzes Netz von alternativen Initiativen und Projekten, die sich nun ebenfalls Hoffnung auf die Fleisch-, pardon: Tofutöpfe machen durften.

Redaktionell bearbeiteter und gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Wolfgang Seidel (Hg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben. Ventil Verlag, Mainz 2005. 288 S., 14,90 Euro. Das Buch erscheint am 19. Oktober.