»Ich bin Pazifist, mich faszinieren Waffen«

Regisseur thomas vinterberg über das Jungsein, die Aggression und das Amerika-Bild in seinem neuen Film »Dear Wendy«

Beschreiben Sie uns die Figuren, die uns in dieser Kleinstadt im Südwesten der USA begegnen und eine Gang bilden. Was eint sie? Ist es die Liebe zu den Waffen?

Sie sind als Loser definiert. Ich glaube, dass sie ein ganz bestimmtes Gefühl haben, das sie mit vielen anderen jungen Menschen dieser Welt teilen. Es ist ein Gefühl der Enttäuschung über das Leben. Sie sind enttäuscht über die Situation, in die sie von ihrer Umwelt gebracht wurden. Einer hat kein Bein, ein anderer ist schwarz, da ist ein Mädchen, das nicht den Klischees entspricht, und bei dem nächsten reicht schon, dass ihn alle einfach als seltsam bezeichnen, warum auch immer. Sie haben sich mehr vom Leben erwartet. Aus diesem Gefühl entsteht eine wachsende Unzufriedenheit, die von einer Dringlichkeit und Kraft ist, die du nur hast, wenn du jung bist. Du möchtest ein größeres Leben für dich definieren, selbstbestimmt. Das ist der Teil der Geschichte, in die ich mich verliebt habe, als ich das Drehbuch von Lars von Trier gelesen habe. Aber dieser Teil war in der Erstversion des Drehbuchs noch unterentwickelt.

Sie identifizieren sich mit den Figuren?

Das war die Aufgabe, die der Stoff mir vermittelt hat, weil das Buch das auf diese Art erst mal nicht kann. Im Originalskript waren die Figuren alle Mitte dreißig. Das Buch war eine faszinierende politische Allegorie, was der Film auf eine gewisse Art auch noch heute ist. Genau wie in »Dogville« handelte es sich um ein Schachbrett, auf dem sich Figuren bewegen, und du kannst es aus gottgleicher Perspektive beobachten. Die Idee unserer Kollaboration war, dass ich diesem Experiment ein emotionales Leben einhauche. Entstehen sollte ein Film, den man auf Augenhöhe und durch die Augen junger Menschen erlebt. Als erstes machte ich die Figuren also um die 15 Jahre jünger.

Aus welchem Grund?

Das gibt dem Film etwas Naives, außerdem schafft man einen Bezug zu der Phase deines Lebens, wo du solche Dinge tust. Ich habe solche Dinge getan. Und ich liebe es, so etwas im Kino zu sehen. »Breakfast Club« oder so, mit solchen Filmen fühlte ich eine Verbindung, als ich das Buch las. Eine andere Verbindung, die mich mit Angst erfüllt, sind Ereignisse, wie man sie in Michael Moores Film »Bowling for Columbine« vorgeführt bekommt. Das ist die gleiche Sache. Untröstlich über die Tatsache zu sein, in einen absurden perversen Alltag einzutauchen, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Es geht immer um Widerstand gegen die traurige Natur des Lebens.

Sowohl Ihre Filme als auch die von Lars von Trier erzählen immer wieder von Gruppen. Und meistens brechen die Gruppen am Ende des Filmes auseinander.

In einem bestimmten Sinn bricht die Gruppe in »Dear Wendy« nicht auseinander. Sie entscheiden sich, gemeinsam in den Tod zu gehen. So sehe ich das. Der Grund, warum die Dinge schlecht für sie laufen, ist, dass das Experiment, ein Pazifist mit einer Feuerwaffe zu sein, Angst, Geiz und Paranoia provoziert. Das ist der Punkt, an dem dieser komische Zyklus von Angst und Verteidigung, begründeter und unbegründeter Paranoia im politisch-philosophischen Sinne interessant wird. Was uns ziemlich genau zu dem Spiel führt, das Lars von Trier so gut beherrscht. Anstatt davon zu sprechen, warum Gruppen auseinanderbrechen, sagt er: Lass uns von Gruppen überhaupt sprechen. Warum machen wir immer wieder Porträts von Gruppen? Ich weiß es nicht. Ich glaube, Lars und ich haben verschiedene Gründe, über ähnliche Dinge zu sprechen. Wenn man sich Lars’ ganzes Lebensprojekt anschaut, dann geht es darum, etwas Verrücktes, womöglich Selbstmörderisches zu tun und die Leute um ihn herum da hineinzuziehen. Wenn man sich seine Produktionsfirma Zentropa anschaut, das ist ein verrücktes Projekt, Dogma genauso. Wenn man sich meinen Film anguckt oder noch besser »Die Idioten«, hat man ein sehr präzises Beispiel seiner Arbeit. Es ist sein Thema, sein ganzes Leben hindurch, nicht nur in seinen Filmen. Sicher hat es zuerst damit zu tun, dass ich in einer Kommune aufwuchs. So habe ich die Welt kennen gelernt – durch neurotische Gruppen von Menschen, die gleichzeitig sehr liebenswert sind und füreinander sorgen. Aber gleichzeitig gab es unglaublich viele Streitereien. So sah die Welt aus meiner Perspektive aus. Wenn ich morgens aufwachte, sah ich acht bis 14 Menschen an einem Tisch, die intensiv interagierten. Es war immer eine Gruppe, alles wurde als Gruppe entschieden. Ich habe das sehr genossen.

Sie haben es gemocht? Viele Menschen, die ihre Kindheit und Jugend in Kommunen verbracht haben, sagen, dass sie das Hippie-Leben in der Kommune gehasst haben. Björk äußert sich ständig darüber.

Ich habe festgestellt, dass besonders Frauen meiner Generation, die in einer Kommune aufgewachsen sind, sehr negativ davon sprechen. Ich glaube, sie haben sich dort unsicherer gefühlt. Ich habe es geliebt. Ich fand, es war eine phantastische, stimulierende Erfahrung. Ich glaube, dass die Themen meiner Filme mir das Gefühl geben, zurückgehen zu können. Auch eine Filmcrew ist ein Substitut für meine Jugend. Jeden Donnerstag, Freitag und Samstag waren 20 bis 25 Menschen zum Abendessen da. Daraus entwickelte sich irgendetwas zwischen einer Party und einer Orgie. Außerdem waren es sehr kompetente Individuen. Intellektuelle, verlässliche Menschen. Als ich Teenager wurde, gab es viele Mädchen, viele Freunde, ich mochte es sehr. Selbst als sich meine Eltern scheiden ließen, entschied ich mich dazubleiben.

Wenn ich Arbeiten sehe, an denen Lars von Trier beteiligt ist, überfällt mich ein typischer Impuls, der gleichzeitig Hochachtung und Ekel ausdrückt. Dieses Paradox ist bis zu einem gewissen Grad ja auch von ihm intendiert, aber in der letzten Zeit wurde der Ekel immer stärker. Bei »Wendy« interessierte mich der Konflikt des Filmes schon, besonders, nachdem ich solch eine Beziehung zu den Figuren aufgebaut hatte. Was dieser Film mir aber über Amerika erzählen wollte, habe ich nicht verstanden oder hat mich überhaupt nicht interessiert. Ich habe das Gefühl, die politische Botschaft des Filmes ließe sich auch als One-Liner in einem Michael-Moore-Film verwursten.

Aber dieser Film handelt nicht in erster Linie von Amerika. Das ist ein großes Missverständnis. Dieser Film handelt von der Liebe und dem Begehren, das man für Feuerwaffen empfindet. Natürlich findet die Erzählung in der amerikanischen Waffenkultur statt, was dem Film schon eine politisch reale Aktualität gibt. Das bedeutet aber nicht, dass ich mit so einem Film mit erhobenem moralischem Finger auf die Amerikaner zeige. Das Amerika dieses Filmes wird als Bühne benutzt, für etwas, das möglicherweise universeller Natur ist. Und es ist natürlich eine Satire, mit dem Sheriff, dem Western-Städtchen und so weiter. Aber der Sarkasmus des Films wendet sich auch gegen den europäischen Blick, der einerseits so anglophil durchdrungen ist, andererseits alles zu überschauen meint. Dieser Film handelt auch vom Konflikt zwischen dem gesprochenen Wort und der konkreten Handlung. Das hat für mich nichts mit Amerika zu tun. Natürlich kann man darin meinetwegen die aktuelle Weltpolitik gespiegelt sehen, den Irak-Konflikt, wenn man will. Das ist verdammt einfach. Es ist unser Fehler, dass wir es dem Publikum so einfach gemacht haben, diesen Film als antiamerikanischen Bullshit zu verstehen.

Trotzdem können solche Reaktionen Sie doch nicht ernsthaft überraschen.

Tun sie auch nicht. Aber sie sind ermüdend und oberflächlich. Ich bin kein Antiamerikaner. Ich verstehe das Wort noch nicht mal wirklich. Wie soll ich bitte antiamerikanisch sein? Alle meine Lieblingsfilme sind amerikanisch. Meine Lieblingsschauspieler sind Amerikaner. Sean Penn ist Amerikaner. Ich liebe Sean Penn, und er ist genauso amerikanisch wie George Bush. Natürlich bin ich besorgt über die amerikanische Außenpolitik. Aber das ist nicht der Punkt, davon handelt nicht der Film. Diese Fragen muss sich jeder selbst beantworten. Wir haben sie nicht mal besonders diskutiert, als wir den Film vorbereiteten. Amerika ist die finale Grenze der westlichen Welt. Im Guten wie im Schlechten. Und es ist ganz natürlich, dass wir über den Ort reden, Phantasien über ihn bilden oder Filme dort machen wollen, weil er uns fasziniert.

Es scheint aber, dass die Verbindung zu Lars von Trier eine ganze Reihe negativer Assoziationen bei den Leuten abruft. Die Leute fühlen sich zunehmend provoziert von ihm. Und seine plakativen Sätze wie »George Bush ist ein Arschloch« wiederholen sich. Aber wenn du diesen Film betrachtest, ist er nicht antiamerikanisch. Ich habe den Eindruck, dass ich den ganzen Dreck wegmachen muss, den Lars von Trier hinterlassen hat.

Lars von Trier, der bekanntermaßen unter Flugangst leidet und immer nur im Wohnmobil reist, hat Europa noch nie verlassen. Die USA kennt er also nicht. Wie sind Ihre Erfahrungen mit den USA?

In den USA existieren viele Dinge, die ich nicht verstehe, andere finde ich spannend und anziehend. Jedenfalls ist es ein sehr komplexer Ort, den ich lieber und öfter als jeden anderen besuche, wenn ich die Zeit dazu habe. In New York bin ich jedes Jahr mindestens zwei bis drei Mal. Ich habe das Drehbuch auch mehrmals überarbeitet und die Verweise auf Amerika und die dazugehörige Ironie, die Lars von Trier immer benutzt, ums Vielfache reduziert, weil mir klar war, dass sie beispielsweise beim amerikanischen Publikum nicht besonders ankommen und verstanden werden würde. Vielleicht hätte ich es noch viel mehr reduzieren sollen, weil es offensichtlich ein großes Issue wird, insbesondere in der amerikanischen Presse. Dort wird von dem einen oder anderen quasi die Automatikwaffe gezückt, mit der jedes Mal auf Lars von Trier gezielt wird, wenn er nur den Mund aufmacht.

Ärgert Sie diese Debatte?

Sie ist schon okay. Vielleicht bringt sie aber auch überhaupt nichts. Oder sie entwickelt sich irgendwie zu einer nützlichen Diskussion über Weltpolitik.

Welche Bedeutung haben Waffen für Sie?

Waffen faszinieren mich, wie jeden anderen auch, insbesondere Männer sind davon fasziniert. Ich bin mit einer großen moralischen Barriere zwischen mir und Schusswaffen aufgewachsen. Diese Barriere besteht bis heute, ich bin Pazifist. Trotzdem fasziniert es mich, eine in meiner Hand zu halten. Und ich liebe Filme, in denen sie vorkommen. Deswegen war es sehr einfach für mich, Zugang zu dieser Gruppe zu bekommen. Als ich so alt war wie die Teenies im Film, war ich ein Punk. Halb Punk, halb bohemistisch, Drogen nehmen, Politik diskutieren, The Cure, The Clash, David Bowie hören. Das ist nicht weit entfernt von den Kids im Film.

Glauben Sie, dass dieses Gefühl, einer Gegenkultur anzugehören, heute verloren oder weniger wert ist? Oder wird es immer wieder Subkulturen geben?

Ja, es wird sie immer wieder geben, permanent – und für die Subjekte, die sich in ihnen bewegen, wird sich auch immer wieder eine wichtige, möglicherweise politische Erfahrung ausdrücken. Ich bin jetzt verheiratet und 36 Jahre alt, ich bin nicht mehr in dieser Position. Deswegen ist es toll, all das in einem Film auszuleben und an diesen Ort zurückzukommen. Auf eine gewisse Art reagieren junge Leute immer wieder offensiv gegenüber Konventionalismus. Das ist auch das, was Künstler tun – im besten Falle. Dasselbe haben wir mit Dogma getan. Dogma war, als sei man wieder jung. Für mich war es eine Revolte, sehr selbstbezogen, arrogant und gleichzeitig sehr naiv, lebendig und sogar erfolgreich.

Dogma hat gerade sein zehnjähriges Jubiläum gefeiert. Wie fühlen Sie sich heute mit diesem Projekt, mit dieser Zeit, mit diesen Erfahrungen?

Ich habe sehr gemischte Gefühle. Ich dachte, es sei tot.

Wann kam dieses Gefühl zum ersten Mal auf?

In der Minute, als in Cannes das Publikum aufstand und applaudierte. Das passierte schon sehr früh, bei der Premiere von »Das Fest«. Das war auch ein phantastischer Moment – aber gleichzeitig eine große Überraschung, dass der Film solch einen Erfolg hatte. Nur wenige Tage danach hatte ich das Gefühl, dass ich nicht mehr in der Lage bin, einen Dogma-Film zu machen. Bei Dogma ging es darum, etwas Neues, Erfrischendes und Riskantes zu tun. Und das war es ab diesem Punkt schon nicht mehr. Nach ein paar Jahren wurde es sogar zur Mode. Es wurde seine eigene Konvention, gegen die sich die Leute auflehnten. Da dachte ich, Dogma sei tot. Aber das war zu simpel und vorschnell. Als ich diesen Satz einmal in einer französischen Zeitung gesagt hatte, riefen mich verärgerte Kollegen an, die Dogma-Filme machten, und fragten, was ich da zum Teufel nochmal erzählte. Da realisierte ich, dass Dogma für mich tot war, in dieser Zeit, aber dass die Welle nun woanders stattfand und jemand anderes damit eine phantastische Zeit hatte – und immer noch hat. Deswegen war diese Einschätzung sehr egoistisch. Deswegen einigten wir uns auch darauf, Dogma nach zehn Jahren nicht einzustampfen. Wir setzten das Dogma-Manifest ins Internet, jeder kann es nun benutzen. Ich weiß nicht, was passieren wird, und ich will es auch nicht mehr kontrollieren. Vielleicht werde ich selbst irgendwann wieder einen Dogma-Film machen. Ich hätte Lust darauf.

interview: tim stüttgen