Am Rande der Existenz

6 000 Menschen beteiligten sich in der lettischen Hauptstadt Riga an einer Demonstration gegen die miserablen Lebensbedingungen. von udo bongartz, riga

Touristen erfreut Riga mit seiner Altstadt, in der sowjetische Bausünden weitgehend getilgt sind. Der Besucher wandelt zwischen restaurierten Fassaden, genießt Getränke und gutes Essen in den zahlreichen Cafés und Restaurants. Er kann in den neuen Einkaufspassagen shoppen wie in einer westlichen Metropole: Hinter Glas- und Marmorfassaden ist vom Gourmet-Gewürz bis zur Designermode alles erhältlich. Die oft noch holprigen Straßen können die wachsende Zahl westlicher und fernöstlicher Kleinwagen, Limousinen und Geländefahrzeuge kaum fassen.

Doch für die Bevölkerung sieht der Alltag weniger rosig aus. Unter dem Motto »Wir gegen Armut« rief der Bund der Lettischen Freien Gewerkschaften (LBAS) am 1. Oktober zu einer Demonstration in Riga auf. Etwa 6 000 Menschen nahmen daran teil. »Es reicht!« lautete daher der kämpferische Tenor des Aufrufs: »Der bescheidene Lebensstandard der Bevölkerung sinkt dramatisch. Im Vergleich zu den übrigen EU-Staaten ist unsere soziale und wirtschaftliche Lage düster: die höchste Inflation, die geringsten Gehälter und Renten und das am schnellsten aussterbende Land.« Die Menschen in Lettland müssen mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen innerhalb der EU leben. Ihr monatliches Bruttogehalt betrug im vergangenen Jahr durchschnittlich etwa 320 Euro.

Peteris Krigers, LBAS-Vorsitzender, kritisierte auf der Tribüne am zentral gelegenen Domplatz: »Die Menschen haben nichts zu essen. Doch die Regierung speist sie mit riesigen Wachstumsraten und bedeutenden Steigerungen des Durchschnittseinkommens und mit Erzählungen darüber ab, dass sich der Reichtum in einigen Jahren zeigen wird.« Diese Demonstration sei erst der Anfang, und der Kampf werde lang und hart. Dann verspottete er unter dem Beifall der Demonstrationsteilnehmer die Privatisierungswut der Regierung: »Ich würde mich nicht wundern, an einem Tag aufzuwachen, an dem uns eine rechtmäßige Agentur für die eingeatmete Luft bezahlen lässt.«

Vor allem für Rentnerinnen und Rentner sieht die Situation sehr schlecht aus. An Straßenecken und in Unterführungen strecken greise Bettlerinnen den Touristen ihre Pappbecher entgegen, um ein wenig Kleingeld zu erhalten. Am Rande des Rigaer Großmarkts verkaufen die Alten ihre spärliche Habe. Senioren bewachen rund um die Uhr Parkplätze, putzen die fast durchgehend geöffneten Supermärkte oder kassieren in den städtischen Bussen. Die Rente gewährt hierzulande häufig nicht das Existenzminimum. »15 Jahre nach der Unabhängigkeit haben wir in vielen Bereichen Erfolge erzielt, doch unsere soziale Lage ist schlecht«, sagte eine Rentnerin während der Demonstration, und ein etwa 40jähriger fügte hinzu: »Die Regierung verspricht viel und hält nichts.«

Hinter der glänzenden Kulisse kann Lettland die Armut nicht verbergen. Viele der jüngeren Arbeitnehmer wandern aus. Im ersten Halbjahr 2005 verließen bereits 1 398 der 2,4 Millionen Einwohner das Land. Mittlerweile fehlen in einigen Branchen schon Arbeitskräfte. Als Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga angesichts der schwachen Geburtenrate die Bevölkerung aufrief, »Kinder in die Welt zu lassen«, spotteten die Letten: »Auf nach Irland«. Lettische Arbeitnehmer verdienen in Westeuropa ein Vielfaches von dem, was sie in Lettland verdienen. Ansis Dobelis, Vorsitzender der sozialdemokratischen Jugendorganisation JSS, weist darauf hin, dass die Unternehmen beabsichtigen, noch billigere Arbeiter aus Asien zu »importieren«.

Diejenigen, die im Lande bleiben, beginnen, sich gegen die sozialen Missstände zu wehren. Ob Anästhesisten, Sanitäter oder Waldhüter, die staatlichen Angestellten können ihre Familien kaum versorgen. Auch die Lehrer gehören zu den Geringverdienern. Im September protestierten sie bei Ministerpräsident Aigars Kalvitis, da die Regierung zugesagte Lohnerhöhungen immer weiter verzögert. Sogar die Polizisten streikten. Auch Gehaltszuschläge gleichen die hohe Inflation nicht aus, und die Kaufkraft sinkt.

Gewerkschafter machen auch das Steuersystem für die Armut verantwortlich, da Arbeitnehmer gegenüber Unternehmern benachteiligt werden. Das, was manchem Deutschen als ›Vision‹ erscheint, ist in Lettland seit Mitte der neunziger Jahre Realität: Der Einkommenssteuersatz beträgt für alle Arbeitnehmer progressionslose 25 Prozent.

Janis Grasis, Dozent an der Rigenser Bankenhochschule, unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften nach einem gerechteren Steuersystem. Das jetzige System behindere den Aufbau des Sozialstaats. In der ganzen zivilisierten Welt akzeptierten Sozialdemokraten und Liberale den Grundsatz, gemäß der Finanzkraft des Bürgers Steuern zu erheben. Grasis fordert eine Steuerprogression von 15 bis 35 Prozent und eine Steuerbefreiung für Einkommen, die unter dem Existenzminimum liegen.

Nach einer Statistik der Staatlichen Sozialversicherungsagentur beträgt das Einkommen von 440 169 Arbeitnehmern, das ist fast die Hälfte aller Gehaltsempfänger, weniger als 150 Euro monatlich. Dieser Betrag liegt sogar noch drei Euro unter dem, was die staatlichen Statistiker für Juli 2005 als so genanntes Existenzminimum berechneten. Doch selbst solche Summen besteuert der lettische Staat mit 25 Prozent. Nur Mini-Gehälter bis 40 Euro bleiben verschont. Grasis kritisiert, dass Lettland damit gegen die Menschenrechte verstoße und internationale Vereinbarungen verletze.

Bei Kapitalerträgen begnügt sich der lettische Gesetzgeber dagegen mit einer Steuer in Höhe von 15 Prozent und gewährt großzügig Befreiungsmöglichkeiten. Auch das politische Establishment profitiert davon. Grasis erläutert dies anhand von Daten der Steuerbehörde VID, die die Einkommen führender Politiker auflistet. Allen voran nennt er Verkehrsminister Ainars Slesers, der 2004 nur das Gehalt versteuerte, das er als Minister und Abgeordneter erhielt. Seine Zinserträge und die Gewinne aus Aktienverkäufen blieben hingegen steuerfrei. Grasis bemängelt zudem die einheitliche Warenbesteuerung: Der Mehrwertsteuersatz von 18 Prozent gilt auch für Lebensmittel. Gerade Geringverdiener leiden unter dem stetigen Preisanstieg. Die Gewerkschafter fordern eine Steuer in Höhe von fünf Prozent für Lebensmittel.

Noch ist der Erfolg ungewiss. Der LBAS-Vorsitzende Krigeris hatte mit der doppelten Zahl von Teilnehmern an der Demonstration gerechnet. Doch Diskussionen in den lettischen Medien zeigen, dass die Bevölkerung, die sich jahrelang und erfolgreich gegen die sowjetische Vorherrschaft wehrte, nun beginnt, Verteilungskämpfe innerhalb der eigenen Gesellschaft auszutragen.