»Die Natur kennt keine Moral«

Der Tierfilmer und Publizist Michael Miersch über schwule Pinguine, Elefanten-Sex, Gewalt unter Delphinen und über verklemmte Evangelikale. Mit ihm sprach ivo bozic
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Haben Sie den Film »Die Reise der Pinguine« schon gesehen?

Nein, ich habe bisher nur davon gehört, auch davon, dass die Bibelschwinger in den USA ihn lieben.

Können Sie sich das erklären? Sind Pinguine wirklich solche aufopfernden, treuen Familientiere, als die sie infolge des Films von christlichen Fundamentalisten in den USA bewundert werden?

Ich weiß nicht, wie die Pinguine in dem Film dargestellt werden, aber die Forschung hat einige Dinge zu Tage befördert, wonach klar sein dürfte, dass Pinguine nicht unbedingt einem christlich-fundamentalistischen Weltbild entsprechen. In einem Zoo in Bremerhaven wurde beispielsweise Homosexualität bei Pinguinen festgestellt. Außerdem ist es eine der wenigen Tierarten, bei der so etwas wie Prostitution nachgewiesen wurde. Adéliepinguine, das ist eine kleinwüchsige Art, die an der Antarktis lebt, bauen kleine Nester aus Steinchen. Es gibt allerdings Populationen, die an Stränden leben, wo ein Mangel an solchen Steinen herrscht. Da machen die Weibchen folgendes: Sie lassen sich von dem Pinguinmännchen ihrer Wahl begatten, und nebenher bandeln sie mit anderen Männchen an. Aber nur in der Absicht, von denen Steinchen zu bekommen, die sie dann mit nach Hause zu ihrem Gatten nehmen. Also ein eindeutiger Fall von Sexualität in Spekulation auf materielle Vorteile.

Das kann Gott doch nicht gewollt haben!

Man kann ganz grundsätzlich sagen: Das alte Argument, irgendetwas sei wider die Natur, ist völliger Unsinn. Durch die Zunahme der Feldforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als immer mehr Forscher in unwegbaren Gebieten die Tiere genau beobachtet haben, ist eine Behauptung nach der anderen widerlegt worden. Es gibt sehr wohl Homosexualität und Masturbation in der Tierwelt, ja, es gibt eigentlich jede Variante der Sexualität, die man sich nur vorstellen kann. Und die Sexualität der Tiere dient auch beileibe nicht nur der Fortpflanzung. Sie hat auch eine ganz starke soziale Komponente.

Inwiefern?

Einerseits geht es um Bindungen, die so gepflegt werden, andererseits auch um Hierarchien. Bei Pavianen zum Beispiel gehört es zum Alltag, dass sie sich gegenseitig aufreiten. Das ist eine Dominanzgeste, die zwischen beiden Geschlechtern stattfindet und so aussieht wie ein kurzer Sexualakt, und die dazu dient, Hierarchiefragen innerhalb der Gruppe zu klären.

Ist die Natur denn moralisch völlig verkommen?

Der naturalistische Trugschluss ist in jeder Hinsicht Quatsch. Die Natur kennt keine Moral, und sie sich als Vorbild zu nehmen, egal, ob das in einem Nazi-Sinne geschieht, also dass der Stärkere den Schwächeren vernichten oder dominieren müsse, oder im Sinne von Veganern und Tierrechtlern, die meinen, alle müssten ganz furchtbar lieb zueinander sein, das ist alles Bullshit. Aus der Natur lässt sich so ziemlich alles und immer auch das Gegenteil herleiten. Gottesanbeterinnen fressen nach dem Sexualakt ihr Männchen auf, das sollte man sich auch nicht unbedingt zum Vorbild nehmen, denke ich. Die Natur steht für sich.

Wie erklären Sie sich die heftige Debatte in den USA, warum fahren die Evangelikalen so sehr auf die Pinguine ab?

Ich habe gelesen, dass da auch fickende Pinguine zu sehen sind. Vielleicht ist das für diese armen Leute endlich mal die Chance, etwas Sex im Kino zu sehen.

Was wäre denn für bibeltreue Konservative ein besseres Maskottchen? Vielleicht Elefanten? Die gelten ja als schwerfällig und beharrlich.

Aber dann müssten die erst mal das Matriarchat einführen, denn die Bullen haben bei den Elefanten wenig zu sagen. Die Herden werden von alten erfahrenen Weibchen geführt. Gerade gestern war ich im Zoo von Tel Aviv und habe durch Zufall das Vorspiel eines Sexualaktes bei Elefanten gesehen, und ich fürchte, allein der Anblick würde fromme Gemüter heftig erschüttern. Es wurde auch schon mal beobachtet, dass ein Elefant mit Hilfe seines Rüssels masturbiert hat.

Warum eignen sich Pinguine so gut als Kassenschlager?

Pinguine sind aufrecht gehend und erinnern so an Menschen, auch durch diese Art »Frack«, und es sind einfach unglaublich süße Vögel. Ich habe auf den Falklandinseln einmal Tage inmitten einer riesigen Pinguinkolonie verbracht und war sehr beeindruckt davon, wie sich diese Tierchen abrackern. Die führen ein so wahnsinnig hartes Leben. Wie die da die Klippen runterklettern auf ihren zwei Watschelfüßen und dann erst einmal eine Schar Seelöwen durchtauchen müssen, die sie fressen wollen, um dann 300 Kilometer zu irgendwelchen Fischgründen zu schwimmen und wieder zurück, die Klippen wieder hoch, während in der Zwischenzeit Raubmöwen auf ihr einziges Junges lauern, das sie dann füttern müssen – und das Tag für Tag, das hat mir einigen Respekt abgenötigt. Aber ein christlicher Fundamentalist bin ich dadurch nicht geworden.

Finden Sie es problematisch, dass Pinguine so vermenschlicht werden?

Ich bin kein Fan von Anthropomorphisierungen, aber wenn es den Tieren zugute kommt und sie in Ruhe gelassen werden und es dazu führt, dass die Menschen einen gewissen Respekt vor der Natur entwickeln, dann finde ich das in Ordnung. Es ist doch schön, dass sich das Verhältnis der Menschen gegenüber diesen Tieren so positiv geändert hat. Das war ja nicht immer so. Bevor in Pennsylvania Erdöl entdeckt wurde, gehörten Pinguine zu den Tieren, mit denen in Europa die Lampen brannten und die Maschinen geschmiert wurden. Die sind zu Millionen eingekocht worden. Auf den Falklandinseln habe ich noch die alten Kessel gesehen, in denen man die Vögel damals gekocht hat.

Ist es denn grundsätzlich die Nähe zum Menschen, die bestimmte Tiere so beliebt macht?

Beim Affen ist es die Nähe, beim Hund – ich bin selbst Hundebesitzer – ist es einfach so, dass es sonst kein Tier gibt, das sich so stark für Menschen interessiert. Beim Delphin ist es das ewige Lächeln, das ihm ins Gesicht geschrieben ist.

Ist der Delphin denn ein lustiger Typ?

Delphine sind sozial nicht zu empfehlen. Die sind ziemlich brutal untereinander und begehen Massenvergewaltigungen.

Können Sie sich vorstellen, dass der Film in Deutschland eine ähnliche Debatte auslösen wird?

Das kann ich nicht sagen. Die Evangelikalen haben in Deutschland ja nicht so eine Bedeutung, und in sexueller Hinsicht – in anderen Bereichen ist es andersherum – ist man hier ja etwas weniger verklemmt. Ich denke, der Film wird einfach Erfolg haben als schöner Tierfilm. Ich werde ihn mir auch ansehen.

Der Journalist Michael Miersch ist Tierfilmer und Autor des Lexikons »Das bizarre Sexualleben der Tiere« (Eichborn 1999). Gemeinsam mit Dirk Maxeiner bestreitet er eine wöchentliche Kolumne in der Tageszeitung Die Welt.