Schockierende Signale

Indien nach dem Generalstreik von jörn schulz

Indien gehört zu den bevorzugten Zielen für das Outsourcing westlicher Konzerne. Das Wirtschaftswachstum liegt über acht Prozent, die Regierung ist privatisierungsfreudig, die Börse boomt, und mehr als eine Milliarde potenzieller Konsumenten warten auf die Segnungen des Kapitalismus. Zudem betonen sowohl die indische Regierung als auch die internationale Geschäftswelt, dass Heerscharen gut ausgebildeter und kreativer, aber in finanzieller Hinsicht genügsamer Arbeitskräfte zur Vergügung stehen.

Entsetzt reagierten indische Politiker, Geschäftsleute und Journalisten deshalb auf den Generalstreik vom 29. September. 60 Millionen Staatsangestellte beteiligten sich an dem eintägigen Ausstand gegen die Privatisierungspolitik und geplante Veränderungen des Arbeitsrechts. Dies sei ein »schwerer Schock« gewesen, meint Onkwar S. Kanwar, der Präsident der indischen Industrie- und Handelskammer. Der Streik werde »negative Signale nach Übersee senden«. Fast alle bedeutenden Tageszeitungen verurteilten den Streik, der New Indian Express forderte sogar ein »Verbot von Gewerkschaften und Streiks«, um »Indien für immer von dieser Plage zu befreien«.

Nun will der mit der KP assoziierte Gewerkschaftsverband Citu gar die Beschäftigten im Bereich der Informationstechnologie organisieren. Kiran Karmik, der Präsident des IT-Unternehmerverbandes Nasscom, glaubt zwar, dass die Beschäftigten »keine äußere Intervention benötigen, da man sehr gut für sie sorgt«. Dass etwa die Hälfte der Beschäftigten nicht länger als ein Jahr in einem Unternehmen bleibt, spricht allerdings nicht für große Zufriedenheit mit dem Arbeitplatz. Die »Cyber-Kulis« profitieren vom Mangel an Fachkräften, sie gehen dorthin, wo sie mehr verdienen. Die Monatsgehälter im IT-Bereich liegen bei etwa 900 Dollar, sie stiegen in den vergangenen Jahren um durchschnittlich mehr als zehn Prozent jährlich.

Allein in der Softwareentwicklung arbeiten mehr als eine Million Inder, doch mehr als 300 Millionen leben von weniger als einem Dollar täglich. Nur eine Minderheit hat ein vertraglich geregeltes Arbeitsverhältnis, und nicht ohne Erfolg stellen die Regierung und die Unternehmerverbände Streiks dieser »Privilegierten« als rücksichtslose Aktionen dar, die andere ihrer ökonomischen Chancen berauben.

»Der Fehler, den die organisierten Arbeiterführer machen, ist es, die Masse der Arbeiter außerhalb des organisierten Sektors zu ignorieren«, urteilte T.C.A. Ramanujam in der Tageszeitung Business Line. Zudem sind die meisten indischen Gewerkschaften mit einer politischen Partei verbunden. Die Gewerkschaften der Kongress-Partei und der rechten BJP beteiligten sich nicht am Generalstreik, und da die KP gemeinsam mit der Kongress-Partei regiert, ist fraglich, ob ihre Gewerkschaften in Zukunft zu Aktionen aufrufen werden, die diese Koalition sprengen könnten.

Es wäre daher übermäßig optimistisch, eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse an westliche Standards durch rasante Lohnsteigerungen zu erwarten. Doch die Geschäftswelt muss feststellen, dass sie es in Indien und anderen Zielländern des Outsourcing nicht mit anspruchslosen Workaholics zu tun hat. Die Begeisterung über die Chancen der Globalisierung scheint merklich nachzulassen. »Unter dem Strich wertete sogar nur die Hälfte der Befragten den Schritt ins Ausland insgesamt als Erfolg«, fasste das Manager-Magazin Mitte September eine Untersuchung über das Outsourcing bei Finanzdienstleistungsunternehmen zusammen.