In den Knast flüchten

In den osteuropäischen Staaten ist der Schutz von Flüchtlingen nicht ausreichend gewährleistet. von marina mai

Seit der EU-Osterweiterung im Mai 2004 hat Deutschland keine EU-Außengrenze mehr, das wirkt sich nun aus. Die Zahl der neu eintreffenden Asylbewerber geht hier kontinuierlich zurück, ohne dass sich die Menschenrechtssituation in den Herkunftsstaaten nennenswert verbessert hätte. Die EU-Außengrenze hat sich nach Osteuropa verschoben. In den dortigen Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge landen nun die Menschen, die in Europa Asyl beantragen wollen.

Asylsuchende, die ohne Pass einreisen, werden in Polen sofort ins Gefängnis gesteckt. Ein in der Regel dreimonatiger und im Extremfall neun Monate währender Haftaufenthalt gehört zum Aufnahmeverfahren für diese Flüchtlinge und soll der Abschreckung dienen. Asylsuchende mit Pass werden auf die Flüchtlingsheime verteilt. In Litauen kommen grundsätzlich alle Asylsuchenden für die gesamte Zeit ihres Verfahrens in Haft, oft sind das mehrere Jahre. Im Jahr 2004 beantragten in Polen über 8 000 Menschen Asyl. Das sind mehr als doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Für dieses Jahr zeichnet sich eine weitere Steigerung der Asylbewerberzahlen ab.

Über 90 Prozent der Asylbewerber in Polen und 73 Prozent in Litauen sind Tschetschenen. Als russische Staatsbürger dürfen sie legal nach Weißrussland reisen. Von dort kommen sie derzeit noch ohne große Schwierigkeiten über die Grenzen nach Polen, Litauen und Lettland. Die EU arbeitet allerdings daran, die Grenzanlagen weiter zu verstärken. Die Russisch sprechenden Tschetschenen fallen in den baltischen Staaten weniger als Flüchtlinge auf als etwa Afrikaner oder Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die oft rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind. Zumindest in den Städten müssten Tschetschenen dies nicht befürchten, sagt Karina Dajoraite vom Litauischen Roten Kreuz. »Litauer haben aufgrund ihrer Geschichte sogar Sympathien für den antirussischen Freiheitskampf der Tschetschenen.« In ländlichen Gebieten gebe es allerdings durchaus Ressentiments gegen sie.

Wegen der großen Probleme im Sozial- und Gesundheitssystem und in der Verwaltung der Flüchtlingsaufnahme finden die Flüchtlinge in Osteuropa nicht den nötigen Schutz. Diejenigen, die als Asylberechtigte anerkannt werden, erhalten in Polen ein Jahr lang finanzielle Hilfe und einen Wohnberechtigungsschein. Danach sind sie auf sich alleine gestellt. Sozialleistungen stehen ihnen nur zu, wenn sie Wohnraum haben.

Die meisten Tschetschenen werden jedoch gar nicht als Asylbewerber anerkannt, sie genießen lediglich Abschiebeschutz. Sie werden nach dem Ende des Asylverfahrens aus den Heimen verwiesen. Das ist ein Teufelskreis, denn ohne eine Meldeadresse gibt es in Polen weder Sozialhilfe noch eine Krankenversicherung. Anders als in Deutschland dürfen Flüchtlinge in Polen allerdings arbeiten. Doch ohne polnische Sprachkenntnisse – Sprachkurse für Flüchtlinge gibt es nicht – finden sie häufig keinen Job.

Die Mittfünfzigerin Maika Abdoulvakhabova kam vor zehn Jahren als tschetschenische Asylsuchende nach Warschau. Als eine von ganz wenigen Tschetschenen ist sie in Polen wirklich integriert. Sie arbeitet bei der polnischen Flüchtlingsorganisation »Ocalenie« und betreut tschetschenische Asylsuchende. »Das Problem beginnt schon mit den schlechten Russischkenntnissen der Asylentscheider«, sagt sie. »Die behaupten zwar, sie verstünden Russisch, aber ihr Russisch ist schlecht. Somit sind sie oft nicht in der Lage, ein Flüchtlingsschicksal adäquat wiederzugeben«, klagt Abdoulvakhabova. »Wenn ich den Tschetschenen aus dem Polnischen zurückübersetze, was im Anhörungsprotokoll steht, dann schütteln sie oft nur den Kopf: ›Nein, das haben wir nicht gesagt.‹« Zwar dürfe jeder in Polen einen Dolmetscher zur Asylanhörung mitbringen, doch den müsse man selbst bezahlen. Das Geld dafür hat kaum jemand. Schwierig sei auch die medizinische Versorgung, das weiß Abdoulvakhabova aus eigener Erfahrung. Zwar müsse der Staat theoretisch für die rudimentäre medizinische Versorgung aufkommen, aber in der Realität geschieht das oft nicht. »Ich hatte als Asylsuchende eine schwere Magenerkrankung. Der Arzt sagte mir, ich solle ein bestimmtes Medikament dreimal täglich nehmen. Er händigte mir jedoch lediglich zwei Tabletten aus, und ich hatte kein Geld, um weitere zu kaufen.« Psychotherapeutische Betreuung, die gerade Tschetschenen wegen schwerer Traumatisierungen in dem seit Jahren währenden Krieg dringend nötig hätten, gebe es in Polen so gut wie gar nicht. »Lediglich in Warschau unterhält die Caritas eine Sprechstunde. Die eine Teilzeitkraft, die Russisch spricht, kann aus Zeitmangel den Menschen nur das Gefühl vermitteln, sich in dem fremden Land in ihrer Sprache ausnahmsweise verstanden zu fühlen.«

Benita Suwelack vom Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen weiß, dass viele Tschetschenen Polen wegen der aussichtslosen sozialen Lage wieder verlassen, obwohl sie fast nie mit einer Abschiebung in die Russische Förderation rechnen müssen. Manche werden in den Asylheimen auch von ihren Landsleuten bedroht und wollen aus diesem Grund das Land verlassen. »Einige versuchen, zu Verwandten in andere EU-Staaten zu gelangen.« Andere, ergänzt Abdoulvakhabova, kehren in den Kaukasus zurück, etwa nach Inguschetien.

In Westeuropa haben Tschetschenen seit der EU-Osterweiterung praktisch keine Chance mehr, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Denn nach den Verträgen von Dublin ist das EU-Land für die Flüchtlinge zuständig, in das ein Asylbewerber als erstes einreist. Polnische, litauische und lettische Grenzbeamte registrieren sorgfältig die Fingerabdrücke der Flüchtlinge, die bei ihnen an den Grenzen zu Weißrussland Schutz suchen. Wenn Beamte aus Deutschland, Österreich oder Frankreich einen Flüchtling aufgreifen, dessen Fingerabdruck in der EU-Datenbank gespeichert ist, schicken sie ihn in Abschiebehaftanstalten in ihren Ländern, bis der osteuropäische Staat der Wiederaufnahme zugestimmt hat. Das kann Monate dauern.

Judith Gleitze vom Brandenburger Flüchtlingsrat weiß, dass die Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt voll ist mit Flüchtlingen aus Tschetschenien. »Die Inhaftierung und frühmorgendliche Abschiebungen in Polizeibegleitung rufen bei diesen Menschen, die im Krieg extreme Gewalt erlebt und Angehörige verloren haben, starke Angst hervor und führen zu Retraumatisierungen«, erklärt Benita Suwelack. »Tschetschenische Flüchtlinge haben in Westeuropa nur eine Chance auf Schutz, wenn sie mit dem Fallschirm abgesprungen sind. Sonst irren sie in Europa umher, auf der Suche nach Schutz und Lebensperspektive.«