»Wir fragen nicht nach dem Pass«

Frederico Barroela

Seit zwei Jahren arbeitet die NGO »Ärzte ohne Grenzen« in verschiedenen Regionen Marokkos mit Immigranten aus dem subsaharischen Afrika. Neben dem Zentralbüro in der Hauptstadt Rabat betreibt sie Projekte in Tanger, in Nador, nahe der spanischen Exklave Melilla und in Oujda, an der algerischen Grenze. In ihrem letzten Bericht kritisiert die NGO, dass die meisten Menschen wegen der Gewalttätigkeit der marokkanischen und spanischen Polizei ärztlich behandelt werden müssten.

Frederico Barroela leitet das Büro von »Ärzte ohne Grenzen« in Tanger. Mit ihm sprach Alfred Hackensberger.

Sie haben im Süden von Marokko die Lebensbedingungen von Immigranten überprüft, die in einer Militärkaserne interniert sind. Was haben Sie dort beobachtet?

Drei Tage haben wir vergeblich vor dem Kasernentor gewartet, ohne Zugang zu den rund 1 500 Flüchtlingen zu bekommen, die drei Tage lang in Bussen unterwegs gewesen waren. Wir wollten nur ihren Gesundheitszustand und die Unterbringung überprüfen. Wir sind als professionelle Organisation bekannt, seit zwei Jahren kümmern wir uns um diese Menschen und haben ein Recht, sie zu untersuchen. Aber objektive Beobachter sind bei den marokkanischen Behörden nicht erwünscht.

Woher kamen die Menschen, die in der Kaserne interniert waren?

Einige wurden von Spanien nach Marokko zurückdeportiert, andere wurden in den letzten Wochen an der marokkanischen Grenze und in der Umgebung von Ceuta und Melilla verhaftet. Es gab eine Art Sammeltransport, den man in der Militärkaserne zwischenlagerte.

Was hat man mit diesen Menschen gemacht?

Sie wurden in ihre Heimatländer ausgeflogen. Ihre Nationalität wurde von diplomatischen Vertretern der betroffenen Länder festgestellt, die Menschen wurden nach Staatsangehörigkeit sortiert. Dann ging es per Flugzeug zurück nach Mali, Nigeria, Senegal oder Guinea. Jedenfalls wurden fortlaufend Leute in Bussen weggebracht.

Waren Botschaftsvertreter notwendig, weil viele Immigranten gerne ihre Pässe verlieren, um dadurch zu vermeiden, zurückgeschickt zu werden?

Wir bieten Immigranten aus dem subsaharischen Afrika medizinische Versorgung, da sie als Illegale keinen Zugang zum marokkanischen Gesundheitswesen haben. Wir fragen nicht nach dem Pass

Gib es denn so viele Flüchtlinge im Raum Tanger, dass die Unterhaltung eines Büros in dieser Stadt nötig ist?

Die Zahl schwankt und ist saisonal bedingt. Momentan dürften es zwischen 1 000 und 1 500 Menschen sein. Im Winter ist das Meer stürmisch, und nur sehr wenige Boote wagen die Überfahrt nach Spanien. Aber im letzten Jahr wurden es immer mehr. Durch die verstärkten Kontrollen auf beiden Seiten wird es immer schwieriger, die Meerenge zu überqueren. Die Immigranten sitzen fest und werden dadurch immer mehr. Die Zahlen hängen auch von den Polizeirazzien ab, davon, wie viele verhaftet und nach Oujda deportiert werden und wie viele wieder nach Tanger zurückkommen.

Arbeiten die »Ärzte ohne Grenzen« auch auf der algerischen Seite? Dort soll es ja mittlerweile auch Camps mit rund 3 000 Immigranten geben, die, von der marokkanischen Polizei unbehelligt, darauf warten, dass sich die Lage beruhigt.

Nein, bisher haben wir auf algerischer Seite nicht gearbeitet. Die Probleme gab es ausschließlich in Marokko.

In der medizinischen Praxis können Sie in der Regel nur Erste Hilfe leisten. Was machen Sie mit den schwierigsten Fällen?

Die Patienten, die wir nicht behandeln können, bringen wir in marokkanischen Krankenhäusern unter.

Gelingt das ohne Probleme? Marokkaner haben oft sehr große Schwierigkeiten, ohne Geld die entsprechende Behandlung zu bekommen.

Das ist eine Frage der medizinischen Ethik. Jeder Arzt muss einen Patienten, der verwundet ist, behandeln. Außerdem liefern wir die Medikamente und das Material.

Haben Sie auch Immigranten betreut, die sich in den Wäldern rund um Ceuta versteckt haben?

Ja, ihr Zustand war katastrophal. Die Leute hausen dort unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ohne ausreichend Wasser und Verpflegung. Sie essen hauptsächlich Reis, und viele sind daher unterernährt. Mitten im Wald kommen auch viele Kinder zur Welt. In der Zeit, in der ich dort war, wurden rund 40 Babys geboren.

Welchen Einfluss auf die Situation dieser Menschen hatten die Ereignisse in Ceuta und Melilla, wo elf Menschen beim Sturm auf die Grenze getötet wurden?

Das hat viel verändert. Früher standen die Immigranten hin und wieder im Licht der Öffentlichkeit, und dann ging alles wie gehabt weiter. Jetzt ist es damit vorbei. Niemand kann sich mehr verstecken und warten, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.

Hat das mit den verbesserten Beziehungen zwischen Marokko und Spanien zu tun? Früher konnte die marokkanische Polizei einfach wegsehen.

Richtig, aber jetzt ist es nicht mehr ein Problem von Spanien und Marokko. Ceuta und Melilla befinden sich im Schengen-Territorium, das ist jetzt ein europäisches Problem.

Warum haben die Immigranten erst jetzt die beiden spanischen Enklaven als Fluchtmöglichkeit entdeckt?

Der Druck hat sich erhöht. Es gibt weniger Chancen, mit dem Boot rüberzukommen, und gleichzeitig haben sich die Polizeikontrollen in Marokko vermehrt. Die Flüchtlinge fallen regelmäßig polizeilicher Gewalt und Willkür zum Opfer, was in unserem neuesten Report ausführlich dargestellt ist. Die Gewalt gegen Immigranten stieg im letzten Jahr deutlich an. Der Hauptanteil unserer medizinischen Behandlungen war notwendig aufgrund von Gewalteinwirkungen.

Was die Toten der letzten Wochen an der Grenze betrifft, so wurden vier von ihnen sicher von der marokkanischen Polizei erschossen. In einem »Akt der Selbstverteidigung«, sagte man.

Was verlangen Sie von den marokkanischen Behörden? Marokko ist kein reiches Industrieland, sondern ein Land, für das die Aufnahme von Tausenden von Flüchtlingen kein leichtes Unterfangen bedeutet.

Ich kann nicht sagen, was die marokkanische Regierung zu tun hat oder nicht. Aber man muss die Flüchtlinge als menschliche Wesen behandeln, und zwar mit Respekt. Wir haben es hier mit einem menschlichen Drama zu tun.

Nicht alle Flüchtlinge werden politisch verfolgt oder kommen aus Kriegszonen. Viele haben in ihren Herkunftsländern Jobs und Familie zurückgelassen und werden von dort unterstützt, oft mit mehr Geld, als ein normaler marokkanischer Arbeiter im Monat verdienen kann. Kann man hier zwischen »wirtschaftlichen« und »politischen« Flüchtlingen unterscheiden?

Weder Sie noch ich können uns anmaßen, über diese Leute zu urteilen. Wir müssen nur die Fakten beachten. Diese Menschen sitzen hier fest, sind Opfer von Gewalt und führen ein miserables Leben. Das muss man vor Augen haben. Sie sehen in ihrem Land keine Zukunft, deshalb sind sie hier. Das ist das Bezeichnende an Immigration: Die Leute gehen in andere Länder, um ein besseres Leben zu haben.

Vor einer Woche hat ein Team Ihrer Organisation rund 500 Flüchtlinge in der Wüste gefunden, die von der marokkanischen Polizei ausgesetzt wurden.

Ja, sie wurden in Oujda in Busse verfrachtet und nach neun Stunden Fahrt in der Wüste nahe der algerischen Grenze einfach ausgesetzt. Unter ihnen waren viele Verletzte vom Sturm auf den Grenzzaun in Ceuta oder Melilla und auch Frauen und Kinder. So etwas ist unakzeptabel.