Der Staat und der Abfall

Der Soziologe Zygmunt Bauman widmet sich in seinem neuen Buch dem »verworfenen Leben«. von jens kastner

Bei der Herstellung der allermeisten Produkte fällt Müll an. Diese schlichte Tatsache ist der Kern des neuen soziologischen Essays von Zygmunt Bauman. Um ökologische Details geht es darin aber nicht, sondern ums Ganze: Bauman hat sich ein weiteres Mal die Moderne vorgenommen und untersucht sie im Hinblick auf ihre Ausschlussmechanismen. Bei dem Abfall, der den Soziologen interessiert, handelt es sich natürlich um Menschen, Aus- und Abgesonderte, von der herrschenden Doktrin als nutzlos Verworfene verstanden.

Als umkämpft und also als Frage von Macht und ihrer Durchsetzung kennzeichnet er letztlich auch die Unterscheidung dessen, was Abfall ist und was nicht. Die Instanz, die diese Macht über die letzten 200 Jahre in erster Linie besaß, war und ist der Nationalstaat. Seiner Ordnung der Zugehörigkeit fallen bis heute vor allem MigrantInnen und AsylbewerberInnen als Abfall zum Opfer.

Mit diesen Gruppen und den Prozeduren ihrer Ausgrenzung befasst sich Bauman über weite Strecken des Buches, allerdings weitet er den Gegenstand mehr und mehr aus. Er beschränkt sich weder auf ein Territorium noch auf einen Zeitraum. Denn die Produktion überflüssiger Körper, so Bauman, sei eine »direkte Folge der Globalisierung«. Neben Flüchtlingen gehören auch andere Minderheiten zum Globalisierungsmüll. Letztlich zählt Bauman selbst ehemalige Enron-MitarbeiterInnen dazu, die in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen verheizt werden. Im Gegensatz zur früher immer so beschriebenen »industriellen Reservearmee« erwartet den menschlichen Abfall von heute nicht mehr die Wiedereingliederung. Vielmehr erweisen sich Aussichtslosigkeit und Ungewissheit als Konstanten des modernen Lebens. Neue und sich ausbreitende Angst wirkt zerstörerisch auf Vertrauen, was wiederum die Grundlagen des Zusammenlebens angreift. Als nützlich erweist sich der menschliche Müll vor allem in einer Hinsicht, und zwar für politische Herrschaft. Sowohl die Rede von der »Überbevölkerung« als auch die Verknüpfung der Themen »Asyl« und »Terror« weist Bauman überzeugend als ideologische Konstrukte aus, die vor allem für ordnungs- und sicherheitspolitische Maßnahmen dienen.

Er schreibt keine Sozial- oder Kulturgeschichte des Abfalls, sondern collagiert unterschiedliche Fakten zu einer Zeitdiagnose der westlichen Gegenwartsgesellschaften. Eine entscheidende Rolle misst er der Kultur aber gerade im Setting der Aussichtslosigkeit zu, nur sie gewinne der »Absurdität des Todes die Bedeutsamkeit des Lebens ab«. Es geht ihm um eine veränderte Sichtweise auf die moderne Kultur, die mit der Produktion von Bedeutung immer auch das Nutzlose geschaffen habe. Dies gelte es als fundamentales Problem wahrzunehmen.

So bestechend seine Beispiele dafür sind, so gewagt sind die Verallgemeinerungen, die er vornimmt. Denn was haben die flexibilisierten Angestellten von Hightech-Unternehmen noch mit den Insassen afrikanischer Flüchtlingslager gemeinsam?

Die Antwort darauf liegt in der Relation: Sie alle sind in bestimmten Verhältnissen oder Beziehungen das, was Bauman jeweils als Abfall bezeichnet, die »Verkörperung der Ambivalenz«, eine potenzielle »Störung der Ordnung« oder vom schnellen Zeitlauf »Entwertete«.

Er stimmt der viel diskutierten These des Philosophen Giorgio Agamben zu, nach der das Gesetz selbst seine Ausnahme schafft und das Lager zum zentralen Ort moderner Ordnungsstiftung macht. Dies kann Bauman mit einer Reihe von Beispielen noch soziologisch illustrieren.

Auch die Arbeiten des französischen Soziologen Loïc Wacquant greift er auf und bespricht dessen Beschreibung der gegenseitigen Annäherung von Ghetto und Gefängnis. Galten sie früher noch als Räume potenzieller Selbstermächtigung bzw. als Anstalten, die der proklamierten Besserung dienen sollten, werden beide heute mehr und mehr zu Aufbewahrungsorten für Unnützes.

Beschreibt Wacquant dezidiert den Zusammenhang zwischen spezifischen Orten, ist deren Status bei Bauman (wie schon bei Agamben) nicht so klar: Handelt es sich bei Lager, Knast und Ghetto um besondere Auswüchse sozialpolitischer Entwicklungen oder um Metaphern für das gesellschaftliche Ganze?

Neben den aktuellen philosophischen und soziologischen Debatten führt Bauman auch Gedanken aus seinen eigenen Büchern fort, wenn er beispielsweise betont, dass die Moderne und der Nationalstaat in Idee und Praxis des Ordnungschaffens stets verbunden waren (»Moderne und Ambivalenz«, 1995). Dass er dabei die in »Die Krise der Politik« (2000) ausgearbeitete Differenzierung von Sicherheit in drei spezifische Formen – security für Besitz und Eigentum, certainty für die Gewissheiten des Alltags und safety für den Schutz des Lebens – nicht wieder aufgreift, ist schade.

Und verwunderlich ist, dass von Jüdinnen und Juden an keiner Stelle des Buches die Rede ist. Und das, obwohl Bauman mit »Dialektik der Ordnung« (1994) einen wichtigen Beitrag zur Soziologie des Holocaust geleistet hat.

Das theoretische Dilemma von der Verallgemeinerung des Besonderen allerdings findet sich bereits darin. Wie die neue Ungewissheit ist auch die Ambivalenz ein für alle gültiges, universelles Phänomen.Sie habe, so Baumann, in der Geschichte des modernen Nationalstaates immer die Kräfte der eindeutigen Ordnung herausgefordert. Unklarheiten über Zugehörigkeit und Loyalität sollten aus dem Weg geräumt werden. Ausgeführt hatte Bauman dies am konkreten Beispiel der Jüdinnen und Juden. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts habe niemand besser die Ambivalenz verkörpert als sie. Die Shoa war demnach eine sehr spezifische Ausschaltung von Ambivalenz mit einzigartigen Ausmaßen. Gerade weil Bauman herausgestellt hatte, wie sehr sie dennoch in die Geschichte der Moderne eingebettet war, ist ihre Auslassung im neuen Buch nicht ganz nachvollziehbar.

Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburger Edition, Hamburg 2005. 196 S., 20 Euro