Die nette Armee von nebenan

Der »Staatsbürger in Uniform»« war das propagandistische Leitbild der Bundeswehr. Zwar war die Idee innerhalb der Truppe umstritten, aber sie hat ihren Zweck erfüllt. von michael behrendt

Das Konzept der »Inneren Führung« mit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« gilt als erfolgreiche Unternehmensphilosophie der Bundeswehr. Wie passt es da, dass der Generalinspekteur des Heeres, Hans Otto Budde, sich im vergangenen Jahr vom »Staatsbürger in Uniform« zu verabschieden schien, als er erklärte: »Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den Hightech-Krieg führen kann«? Vielleicht ist beides doch nicht so widersprüchlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Entwickelt wurden die Begriffe »Innere Führung« und »Staatsbürger in Uniform« Anfang der fünfziger Jahre im »Amt Blank«, dem Vorläufer des Verteidigungsministeriums. Nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs sollte ein militärischer Neuanfang her, der zugleich die nicht gerade populäre Wiederbewaffnung der Bevölkerung schmackhaft machen sollte. Dieser Neuanfang sollte zur pluralistischen Demokratie passen: eine Armee, die in das demokratische Staatsgefüge integriert ist; der Soldat, der weitgehend die gleichen Rechte genießt wie der zivile Bürger. Für die Realisierung dieser Vorstellungen sollte das »Referat Innere Führung« unter der Leitung Wolf Graf Baudissins sorgen, der das Konzept maßgeblich entwickelt hatte.

Doch innerhalb der Truppe blieb die »Innere Führung« umstritten. Mehr noch, in den fünfziger und sechziger Jahren wurde sie von der Mehrheit der Offiziere missachtet und bekämpft, was sich nicht nur bei den bekannt gewordenen Fällen von Rekrutenschinderei zeigte, etwa dem Iller-Unglück im Jahr 1957, als 15 Wehrpflichtige umkamen, oder dem Skandal in der Luftlandedivision Nagold, wo 1963 ein Rekrut zu Tode geschunden wurde.

Im Jahr 1964 wagte es der zweite Wehrbeauftragte, Vizeadmiral a.D. Hellmuth Heye, seine Aufgabe als parlamentarische Kontrollinstanz ernst zu nehmen und in einer Artikelserie zu kritisieren, dass die Armee sich zu einem Staat im Staate entwickle. Die Reaktion auf seine Kritik ließ ihn resigniert zurücktreten. Im Frühjahr 1969 forderte der stellvertretende Heeresinspekteur Hellmut Grashey öffentlich, endlich die »Maske« der »Inneren Führung« abzulegen. Ähnlich sah es eine Gruppe hoher Offiziere um Heeresinspekteur Albert Schnez, die im Dezember desselben Jahres ihre »Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres« veröffentlichten. Diese Studie erteilte der »Inneren Führung« eine radikale Absage: Der Soldatenberuf sei kein Beruf wie jeder andere, sondern eine Aufgabe »sui generis«. Entscheidend sei nicht das politische oder gesellschaftliche Umfeld des Soldaten, sondern allein sein »Ethos«.

In den siebziger Jahren versuchte die sozial-liberale Bundesregierung eine umfangreiche Modernisierung der Truppe. Die Bundeswehr erhielt zwei Hochschulen und ein eigenes Forschungsinstitut. 1972 wurde das Konzept der »Inneren Führung« erstmals in den Rang einer Dienstvorschrift erhoben, in den folgenden Jahren ebbte die öffentliche Diskussion allmählich ab.

Zur gleichen Zeit wurden Verbindungen der Bundeswehr zu Kriegsverbrechern und glühenden Nazis bekannt. Hochrangige Offiziere nahmen an Ehrungen für alte Nazis teil oder trafen sich mit ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS. Der damalige Verteidigungsminister Hans Apel reagierte 1982, kurz vor dem Ende der sozial-liberalen Koalition, mit einer Neufassung des Traditionserlasses. Fortan sollten einzelne Offiziere und das Verhalten von Soldaten der Wehrmacht als traditionswürdig gelten, nicht aber die Wehrmacht als ganze. Folgen hatte der Erlass kaum. Apels Nachfolger Manfred Wörner unterließ es zwar, den Erlass wie angekündigt einzukassieren, kümmerte sich jedoch nicht darum, ob er befolgt wurde. Nicht nur die vielen, unverändert nach Wehrmachtsgenerälen benannten Kasernen bezeugten dies.

Nach dem Nato-Doppelbeschluss von 1979 entfernten sich Gesellschaft und Armee weiter voneinander. Die Friedensbewegung forderte die Bundeswehr auch im Inneren heraus. Soldaten, die die Nachrüstung kritisierten, wurden degradiert oder entlassen.

Als am 19. November 1990 der Warschauer Pakt und die Nato die »Charta von Paris« unterzeichneten, in der sie erklärten, fortan keine Gegner mehr zu sein, büßte die Bundeswehr ihren Daseinszweck ein. Doch Militärplaner und Politik hatten vorgesorgt. Bereits im Jahr 1987 erstellte das Verteidigungsministerium ein Papier, das sich dafür aussprach, den »verfassungsrechtlichen Handlungsspielraum der Bundesregierung für Einsätze der Bundeswehr zur Wahrung deutscher Interessen« zu erweitern. Hierfür sei eine »längerfristige und schrittweise« Anpassung vonnöten, die »im Rahmen von UN-Friedensbemühungen« beginnen solle. Von solchen Einsätzen versprach man sich »die größte Wahrscheinlichkeit bei der politischen Durchsetzung«. Schon wenige Jahre darauf konnte Erich Vad aus dem Führungsstab der Streitkräfte erleichtert feststellen: »Jetzt endlich scheint der Soldatenberuf zu einem ihm über die Jahrzehnte vorenthaltenen ›sui generis‹ zurückfinden zu können.«

Die Auslandseinsätze stellten neue Anforderungen an die »Innere Führung«. Als unverzichtbarer Teil erwies sich die am »Zentrum Innere Führung« eingerichtete Ausbildung zur geistigen und psychologischen Vorbereitung auf den Einsatz. Wie schon bei der Wiederbewaffnung sorgte die »Innere Führung« dafür, die Truppe für neue Aufgaben zu motivieren, der Armee einen neuen Sinn zu stiften und diesen vor der Bevölkerung zu legitimieren.

Sollte der Kampf der Ernstfall sein, musste man sich rückbesinnen. »Wenn wir denn strenger auftragsorientiert führen wollen, dann müssen wir uns an bewährte deutsche soldatische Traditionen erinnern und Eigenverantwortung stärken, Handlungsfreiräume gewähren sowie dem Einzelnen mehr Selbständigkeit und Mitwirkung zubilligen«, schrieb Ulrich A. Hundt, bis 1994 Leiter des »Zentrums Innere Führung«.

In den neunziger Jahren wurde abermals ein Anstieg rechtsextremer Vorkommnisse in der Bundeswehr öffentlich registriert. Gewaltdelikte, Ausländerhatz, Brandanschläge und der Bezug auf »soldatische Leistungen« der Wehrmacht führten zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der freilich zu dem Ergebnis gelangte, bei den Vorfällen handle es sich um ein »mediale Kampagne gegen die Bundeswehr«.

Der Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee ist weitgehend abgeschlossen. Um nach 50 Jahren Bundeswehrgeschichte ein positives Bild in der Öffentlichkeit zeichnen zu können, bleibt das Konzept der »Inneren Führung« unverzichtbar. Die »Innere Führung« hat sich an die Verhältnisse angepasst und letztlich den Widerspruch zwischen »soldatischem Ethos« und dem »Staatsbürger in Uniform« überwunden. Wenn wir heute Krieg führen, dann tun wir es, wie jeder weiß, im Namen von Menschlichkeit und Demokratie.