Hurra, wir sind wieder da!

Geographische Grenzen für ihre Einsätze kennt die Bundeswehr kaum noch. Wo es an Personal und Waffen mangelt, soll die EU-Armee herangezogen werden. von jörg kronauer

Als die Bundeswehr Anfang Oktober zu einem Großen Zapfenstreich auf den Ulmer Münsterplatz lud, galt es keinen Geburtstag, sondern einen Abschied zu feiern. »Das 50 Jahre alte II. Korps in Ulm, dem zu seinen Hochzeiten einmal 90 000 Soldaten angehörten«, notierte ein sichtlich ergriffener Korrespondent der Stuttgarter Zeitung anschließend, »ist seit gestern Geschichte.«

Selbstredend wollte niemand die Angehörigen des aufgelösten Korps einfach nach Hause schicken oder gar dazu ermuntern, mit dem Rest ihres Lebens etwas Sinnvolles anzufangen. Die Soldatinnen und Soldaten werden noch gebraucht, weshalb sie in »andere Organisationseinheiten eingegliedert« werden sollen. Das wiederum habe mit »der Neugewichtung in den Verteidigungspolitischen Richtlinien« zu tun, wie es der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech im Fackelschein formulierte.

Die Zeremonie in Ulm ist nur ein kleiner Ausdruck des tiefgreifenden Wandels, der sich in der Bundeswehr seit Jahren vollzieht und der seinerseits die weltpolitischen Veränderungen seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus widerspiegelt: die Konkurrenz zwischen den rivalisierenden kapitalistischen Blöcken, die seit dem Wegfall des vormaligen gemeinsamen Gegners offen zu Tage tritt, und der Machtzuwachs, den Deutschland durch die Neuordnung Europas verzeichnete.

Der neue deutsche Geltungsanspruch aber will auch militärisch betont sein. Die Bundeswehr soll in aller Welt eingreifen können, um Gegner zu besiegen und Konkurrenten zurückzudrängen. Die Transformation der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee ist seit 15 Jahren im Gange und hat unter der rot-grünen Bundesregierung zu den ersten sehenswerten Erfolgen geführt.

Waren die Anfänge unter Bundeskanzler Helmut Kohl noch bescheiden (1992: 150 Sanitätssoldaten in Kambodscha) oder desaströs (Rückzug aus Somalia im März 1994), so sind deutsche Soldaten heute in insgesamt zehn Staaten dauerhaft stationiert, von Südosteuropa (Bosnien, Kosovo) über Afrika und Zentralasien (Usbekistan, Afghanistan) bis nach Indonesien.

Die Einsatzgebiete sind sorgfältig ausgewählt. So beteiligt sich die Bundeswehr seit 1994 an der UN-Beobachtermission in Georgien. Dabei erhält sie Informationen über die militärische Lage im Südkaukasus, der »wohl strategisch wichtigsten Region für die EU«, wie der Programmdirektor des Berliner Körber-Zentrums für Russland/GUS, Alexander Rahr, meint. Die Marineeinheiten, die scheinbar planlos vor dem Horn von Afrika kreuzen, ergänzen die Präsenz deutscher Soldaten in Äthiopien, Eritrea und dem Sudan. Ostafrika entwickelt sich seit geraumer Zeit zu einem Schwerpunktgebiet der deutschen Afrika-Politik, die militärische Komponente verstärkt die Ambitionen des Auswärtigen Amts.

Nicht nur geographisch weitet die Bundeswehr ihre Einsatzbereiche aus, auch ihre Handlungsmöglichkeiten werden systematisch vergrößert. Nach dem propagandistischen Getöse von der »Landesverteidigung am Hindukusch« versuchte der scheidende Verteidigungsminister Peter Struck im Sommer, noch eins draufzusetzen: Es sei nicht auszuschließen, »dass wir in solchen Einsätzen Soldaten verlieren werden«, verkündete er dem Focus. Seitdem tingelt er mit seinem Mantra »Es wird Tote geben!« durch die Republik. Offenkundig soll die Bevölkerung auf Kampfeinsätze vorbereitet werden, wie sie bislang noch der Kriegstruppe, dem Kommando Spezialkräfte (KSK), vorbehalten sind, über deren Einsätze in Afghanistan nichts zu erfahren ist.

Recht drastisch führt die Zukunftsperspektiven der Truppe ein Papier vor Augen, das die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Anfang des Jahres veröffentlicht hat. »Seit langem ist bekannt«, heißt es darin, »dass Städte als Konfliktraum immer bedeutsamer werden.« Zwar gebe es bei der städtischen Kriegführung gewöhnlich »hohe Verluste«, doch stehe der Bundeswehr »ein verstärkter Einsatz in dieser an Bedeutung weiter zunehmenden Konfliktumgebung« bevor. Damit sei auch deswegen zu rechnen, weil »die künftigen Battle Groups der EU in erster Linie darauf ausgelegt worden sind, (…) im afrikanischen Umfeld eingesetzt werden zu können«. Die dortigen »Wirkungsräume« der Bundeswehr vermutet die SWP »in den Hauptstädten dieser Staaten«.

Die Fähigkeit, »einen Flugplatz oder eine Hafenanlage in eigene Hand zu bekommen«, probte die Bundeswehr zuletzt im April beim Manöver »European Challenge 2005«. Die Kriegsübung diente dazu, einen Battle-Group-Einsatz zu trainieren. Battle Groups – das sind die geplanten 13 multinationalen Einsatzgruppen der EU, die aus jeweils 1 500 Soldaten bestehen und innerhalb von 15 Tagen mobilisiert werden können. An vier Battle Groups ist die Bundeswehr beteiligt, eine davon stellt sie gemeinsam mit Österreich und der Tschechischen Republik. Entsprechend nahmen am »European Challenge 2005« die 6. Österreichische Gebirgsjägerbrigade und die 4. Tschechische Brigade teil.

Auf deutscher Seite war das II. Korps aus Ulm beteiligt, das bislang bei allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr mitgemischt hat – und Anfang Oktober im Fackelschein auf dem Münsterplatz aufgelöst worden ist. An seiner Stelle wird das »Kommando Operative Führung Eingreifkräfte« aufgebaut. Dieses soll Generalmajor Jan Oerding zufolge »multinational (…) zusammengesetzte Kräfte in Einsätzen und Übungen auf der operativen Ebene führen können« – Battle Groups etwa. Und zwar an Ort und Stelle: Während die militärstrategischen Entscheidungen weiter im Potsdamer Einsatzführungskommando fallen, leitet das »Kommando Operative Führung Eingreifkräfte« das direkte Kampfgeschehen im Einsatzgebiet.

Mit dem Einsatzführungskommando und dem »Kommando Operative Führung Eingreifkräfte«, meint Generalmajor Oerding, »ist Deutschland, neben Frankreich und Großbritannien, die einzige Nation in der EU mit der Fähigkeit, beide Führungsebenen zu stellen«. Das sichert eine gewisse Vorrangstellung in der entstehenden EU-Armee. Und das ist gewollt. Schließlich wäre es nicht im Sinne der deutschen Militärs, wenn sie plötzlich nach portugiesischer oder tschechischer Pfeife tanzen müssten. Andersrum ergibt’s Sinn: wenn man nämlich die eigenen begrenzten Kräfte durch Einheiten aus anderen Staaten verstärken kann.

Das Gleiche gilt für die Waffen. Vor allem diejenigen Rüstungsobjekte wollen die Deutschen seit Jahren einer »europäischen« Verfügungsgewalt unterstellen, die sie selbst nicht besitzen. Mit Blick auf die französischen und britischen Atombomben spekulierten Abgesandte des Bundeskanzleramts und der Bundeswehr-Führungsakademie in einem Seminar der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) bereits 1999 über »vergemeinschaftete europäische Nuklearstreitkräfte«. Die Idee taucht seitdem immer wieder auf. So hieß es 2003 in einem Strategiepapier der höchsten Bundeswehrebene, in der »Frage der Überführung nationaler Atomwaffenpotenziale einiger EU-Staaten« müssten »Konsultationsmechanismen und die Beteiligung der Nicht-Atomstaaten an den Entscheidungen« ausgehandelt werden.

Wozu das Ganze? Kürzlich sprach mal wieder jemand die deutschen Träume aus. Knapp, aber prägnant formulierte Hauptmann Christiane Rodenbücher vom Presse- und Informationszentrum die Ziele der Bundeswehr: »In Europa führend, mit den USA auf Augenhöhe.«