Nur vor der Glotze vereint
Ginge es nach Mohammed Said Qader, könnte man sich den Aufwand sparen. Wie Millionen andere Irakis verfolgt der alte kurdische Widerstandskämpfer den ersten Tag des Prozesses gegen Saddam Hussein und sieben Mitangeklagte vor dem Fernseher. Aufhängen solle man ihn, meint er, am besten in Halabja, jener kurdischen Stadt, die die irakische Armee im Jahr 1988 mit Giftgas bombardieren ließ. »Wenn er tot ist, hört auch der Terror auf!« Ob das Verfahren fair sei oder nicht, interessiere hier niemanden, meint der Alkoholhändler Tariq Amin. Man wolle einfach Saddams Kopf.
Der Prozess solle möglichst lange dauern und allen internationalen Standards entsprechen, findet hingegen die Jurastudentin Samira Hussein. Schließlich gehe es vor allem darum, Saddams Verbrechen der Welt vorzuführen. »Wenn das Verfahren fair ist, sehen die Menschen, dass der neue Irak keine Diktatur ist.« Für die Todesstrafe plädiert allerdings auch sie. »Erst wenn Saddam unter der Erde liegt, können die Menschen hier Frieden finden.«
Hatte man gerade im kurdischen Nordirak diesen Tag lange erwartet, stieß das Thema der ersten Verhandlung jedoch auf Unverständnis. Denn das Gericht begann mit einem vergleichsweise kleinen Fall, dem Massaker nämlich, das die Ba’ath-Partei im Jahr 1982 in Dujail, einem kleinen Dorf nördlich von Bagdad verübt hatte. Hier hatten viele erwartet, dass die Anklage mit der »Anfal«-Kampagne beginnen würde, also der systematischen Zerstörung kurdischer Dörfer in den achtziger Jahren, der mindestens 182 000 Menschen zum Opfer fielen.
In Dujail hatten Sicherheitskräfte alle 148 männlichen Dorfbewohner exekutiert, nachdem der Konvoi des Präsidenten bei der Durchfahrt beschossen worden war. Ausgewählt hat das Gericht den Fall wohl vor allem, weil er filmisch dokumentiert ist und die Beweislage eindeutig scheint. Weitere Anklagepunkte sollen folgen: die Niederschlagung der Aufstände im Südirak 1991, der Überfall auf Kuwait, unzählige politische Morde, der Einsatz von Giftgas gegen kurdische Zivilisten.
Mit Hilfe US-amerikanischer Experten und eines eigens hierfür eingerichteten »Regime Crimes Liaison Office« wurden vor dem Verfahren über 40 Tonnen Beweismaterial gesichtet, unzählige der inzwischen bekannten 270 Massengräber geöffnet und tausende Zeugen befragt. Denn das Verfahren soll helfen, das ganze Ausmaß der ba’athistischen Verbrechen bekannt zu machen. Nicht nur die US-amerikanische Regierung, sondern auch irakische Politiker und Juristen hatten sich dabei gegen eine Internationalisierung des Tribunals ausgesprochen und alle Vorschläge abgelehnt, Saddam Hussein vor einem internationalen Gericht oder gar einem UN-Tribunal anzuklagen.
Denn die Vereinten Nationen genießen in Teilen des Irak einen denkbar schlechten Ruf; Kofi Annan gilt dort weithin als Unterstützer Saddam Husseins. »Die meisten seiner Opfer waren Iraker«, sagt etwa der Rechtsanwalt Sarwar Hassan. »Deshalb ist es unsere Pflicht und unser Recht, Saddam und die ehemalige irakische Führung im Irak abzuurteilen. In Nürnberg wurden die Nazis schließlich nur für die Verbrechen verurteilt, die sie außerhalb Deutschlands begangen haben.«
Als Hauptargument gegen ein nationales Tribunal führen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch an, dass im Irak die Todesstrafe gilt, die Saddam Hussein und andere Führungsfiguren des Regimes ziemlich sicher erwarten dürfte. Zudem wird das Fehlen einer Berufungsinstanz bemängelt. Von Saddams offenen Unterstützern abgesehen, finden sich jedoch dieser Tage im Irak nur wenige, die diese Sorgen teilen. Im Gegenteil, immer wieder hört man die Beschwerde, dass die vornehmliche Sorge von UN und Menschenrechtsorganisationen dem Wohlbefinden ehemaliger Diktatoren gelte.
Mit berechtigter Sorge dagegen betrachten manche irakische Intellektuelle wie Kanan Makiya eine Entwicklung in ihrem Land, die auch angesichts des Tribunals offensichtlich wird. Kaum noch gelingt es, die Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen und Konfessionen zu überbrücken.
Daher befürchtet Makiya, das Tribunal könne einen Wettkampf zwischen Schiiten und Kurden entfachen, in dem beide für sich reklamierten, am meisten unter Saddam gelitten zuhaben. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. Auf der anderen Seite fanden in Tikrit und anderen sunnitischen Städten Demonstrationen für Saddam Hussein statt.
Die Sunniten, selbst eine äußerst heterogene Gruppe, sehen sich zunehmend gemeinsam mit Saddam Hussein auf der Anklagebank. Tatsächlich aber stützte sich Saddams Macht nur auf eine Minderheit unter den Sunniten, während sich der ba’athistische Terror gegen jede oppositionelle Regung im Irak richtete. Ein sunnitisches Apartheidsregime war die Herrschaft Saddam Husseins keineswegs.
Auch das Referendum über die Verfassung, das am vorletzten Wochenende durchgeführt wurde, war weniger eine Abstimmung über Vor- und Nachteile des Entwurfs, sondern eher eine Art Volkszählung: Schiiten und Kurden dafür, Sunniten dagegen.
Je mehr allerdings die verschiedenen Gruppen ethnisiert und konfessionalisiert werden, umso einfacher fällt es selbstmandatierten Führern, sie als Gefolgschaft um sich zu scharen. So droht in Vergessenheit zu geraten, dass der Ba’athismus viele Anhänger im Süd- und im Nordirak hatte. Unterdessen kann man sowohl innerhalb der schiitischen Parteien wie im Nordirak beobachten, wie die Ideologie und die Herrschaftstechniken der Ba’ath-Partei strukturell fortgeführt werden.
Eine Aufarbeitung von 24 Jahren faschistischer Diktatur, die zugleich das Ziel einer grundlegenden Verwandlung der irakischen Gesellschaft verfolgt, ist unter solchen Voraussetzungen kaum zu leisten. Dass es trotz allem die Ba’ath-Partei war, deren brutale Unterdrückung auch zu dieser fatalen Dreiteilung des Landes geführt hat, ist dabei eine besonders bittere Ironie.
Dabei würde eine solche Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Funktionsweisen des ba’athistischen Staatsterrorismus nicht nur die künftige irakische Gesellschaft maßgeblich beinflussen, sondern auch die Herrschaft der übrigen Regimes in der Region in Frage stellen. Wie sehr man sich dort vor einer solchen Entwicklung fürchtet, zeigt ein Blick in die dortige halbstaatliche Presse.
In einer Region, in der Schnell- oder Shariagerichte willkürlich Angeklagte verurteilen, empörten sich islamistische und panarabische Zeitungen über die »Siegerjustiz«, die, so etwa Abdulbari Atwan, der Herausgeber der in London erscheinenden al-Quds al-Arabia, nur über die Verbrechen der Amerikaner in Falluja und Abu Ghraib hinwegtäuschen solle.
Auch wenn die ethnische und konfessionelle Zersplitterung des Irak die Freude über die jüngste Entwicklung trübt, sind sich irakische Kommentatoren doch erstaunlich einig, dass mit dem Beginn des Tribunals die Demokratisierung des Landes irreversibel voranschreite. Obwohl noch kein amtliches Endergebnis festgestellt ist, scheint die Verfassung per Referendum angenommen. Im Dezember dürften dann Neuwahlen stattfinden. »Saddam Hussein ist nun Geschichte«, sagt Fathil Amin, der in einem Kaffeehaus in Suleymaniah mit seinen Freunden den Prozess verfolgt. »Und eines Tages werden wir auch Zarqawi und seine ganze Bande vor ein Gericht stellen und aburteilen. Alle sollen ein freies und faires Verfahren haben, und nichts mehr soll an die Zeit erinnern, als Saddam uns regierte.«