Schnorrer verdienen Respekt
He, kannst du mir mal eins ausgeben, Alter? fragt mich der Typ, der neben mir am Tresen in der Bar sitzt, und grinst mich dabei an. Ich zögere kurz, hole meinen Geldbeutel aus der Hosentasche und bestelle ihm ein großes Pils. Ich sehe ihm zu, wie er das Bier in sich hineinsäuft, und fühle mich beschwingt. Plötzlich finde ich die Musik im Hintergrund gar nicht mehr so schlimm, und die Bedienung scheint auch ganz nett zu sein. Irgendwie ist es, als ob in mir die Sonne aufgegangen sei.«
Arne hat seinen sonnigen Gemütszustand dem jungen Mann zu verdanken, der ihn am Tresen angesprochen hat. Weil dieser ihn um ein Bier anschnorrte, hatte Arne die Möglichkeit, seine eigene Großzügigkeit unter Beweis zu stellen und seinem eigenen Ego auf diese Weise ein paar Streicheleinheiten zu verpassen. Schnorrer und Beschnorrte gingen aus freien Stücken eine Symbiose miteinander ein: Der eine gibt, der andere nimmt, und beide sind zufrieden. Schnorren ist sozial.
Das war es auch im Mittelalter schon. Armut war damals ein Lebensideal und wurde auch als solche geschätzt. Schnorrer standen im Ruf, ehrenwerte Personen zu sein. Gerne gab man etwas und teilte sein Hab und Gut mit den zahlreich umherziehenden Bettelorden. Das Schnorren gehörte zum öffentlichen Leben, es war eine nützliche und geradezu notwendige Erscheinung. Die Ärmsten kamen so zu ihrem täglich Brot, und auch den betuchteren Ständen kam die Schnorrerei oder Bettelei zugute: Das Geben von Almosen verschaffte ihnen die Möglichkeit, ihre Sünden zu tilgen und ihre Seele zu reinigen. Erst in der Arbeitsgesellschaft wurde Schnorren zur »Schande«.
In Zeiten von Hartz IV scheint die Arbeitsgesellschaft am Ende angelangt zu sein, und es geht wieder aufwärts mit der Schnorrerei. Die asketische Lebensweise der Bettelmönche ist wieder en vogue, und das nicht nur, weil es wegen schwindender Arbeitsplätze immer mehr moderne Bettelmönche zu geben scheint. Vielmehr steigt auch die Zahl derjenigen, die es nötig haben, angeschnorrt zu werden.
Denn was soll man machen, wenn der Lebensabend nicht mehr gesichert scheint, das tägliche Ackern angesichts schlechter Bezahlung wenig Sinn hat und eine Lebensplanung wegen wechselnder Beschäftigungsverhältnisse fast unmöglich wird? Man lernt den Augenblick zu schätzen, besinnt sich auf die inneren Werte und sucht sich schnellstens einen Schnorrer, bei dem man sich mit wenig Geld Zufriedenheit erkaufen kann. Schnorren ist heutzutage notwendig.
Im Buddhismus fördert das Schnorren die Entwicklung vieler Tugenden. Die Buddhisten zollen den Schnorrern Respekt, weil sie wissen, dass sie die Gelegenheit bekommen, mit ihrer Großzügigkeit einen religiösen Dienst zu erweisen. Sie verneigen sich dankbar vor den bettelnden Mönchen und würden diese niemals als Schmarotzer betrachten.
Umgekehrt sind auch die Mönche, die sich durch Schnorrerei ihren täglichen Reis verdienen, weit entfernt von Selbstzweifel oder sozialem Minderwertigkeitsgefühl. Der schnorrende Mönch hält seine Begierden zurück und meditiert. Das ist harte Arbeit, welche die weltlichen Menschen in Asien zu schätzen wissen.
Aber Schnorren ist nicht nur im Buddhismus ein knallhartes Business. Der Schnorrer muss sich auch in unseren Breiten fest im Griff haben, um unter den prekären Arbeitsbedingungen bestehen zu können. Er erhält keine Zahlungen im Krankheitsfall, hat keine Aussicht auf eine Rente, und sei sie noch so niedrig, er arbeitet unter starkem Konkurrenzdruck.
Um Schnorrer zu sein, muss man nicht nur die harten Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen, sondern auch über die richtigen persönlichen Voraussetzungen verfügen. Der Schnorrer muss kreativ sein, flexibel und kommunikativ, er muss Durchsetzungsvermögen haben und am besten auch noch Arbeitserfahrung mitbringen. Diese Anforderungen kann nicht jeder erfüllen.
Nicht jeder hat also das Zeug zum Schnorrer. Schnorren verdient also auch Respekt und ist alles in allem eine gute Sache. Das findet Arne auch.