Wir und die anderen
Sie heißen Schabowski und Landowsky, nennen sich de Maizière und Reclam, hören auf Tennenbaum sowie Salomon und seit wenigen Jahrzehnten auch auf Öztürk und Hue – und alle sind sie »echte« Berliner/innen. Doch immer noch gilt es als sensationelle Erkenntnis, »dass ›wir‹ hier nicht lange Zeit gesessen sind und nur die Anderen kamen, nein, wir sind selbst gekommen«.
Mit diesen Worten eröffnete Hans Ottomeyer, Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin, am Freitag die seit fünf Jahren vorbereitete Doppelausstellung »Zuwanderungsland Deutschland«. In dem früher insbesondere vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) gesponserten Ort für die offizielle deutsche Geschichtsschreibung kann man nun »seinen Blick für die ›Migrationen 1500 bis 2005‹ schärfen«, ergänzt durch eine Ausstellung zur »Migrationsbewegung der Hugenotten«. Damit ist die Migrationsdebatte der letzten Jahre in der Offizialgeschichte angekommen.
Selbst in einem achtseitigen Werbeblättchen zur Ausstellung wird »die ›deutsche Staatsbürgerschaft‹ als eine historisch sehr junge Konstruktion« beschrieben und danach gefragt, »unter welchen politischen Prämissen Einschluss und Ausschluss erfolgten«. Wer darf einreisen, wer befristet bleiben, wer bekommt die vollen Bürgerrechte?
Schon auf der Eröffnungspressekonferenz überraschte Rosemarie Beier de-Haan, eine Macherin der Ausstellungen, mit einem sehr offenen Migrationsbegriff. Ihr gehe es nicht nur um Einwanderung, sondern um »Zuwanderung«, weil man darunter »die Summe aller Gründe fassen kann, warum Menschen ihre Heimat verlassen und sich an einen anderen Ort begeben. Mit dieser thematischen Öffnung sollen nicht die grundlegenden Unterschiede zwischen all diesen Formen von Migration verwischt werden, sondern im Gegenteil wollen wir den Blick schärfen für eine differenzierte Wahrnehmung und Reflexion«, betont sie zusammen mit ihrer Kollegin Sabine Beneke. Auch ihr Kollege, der Migrationsforscher Klaus J. Bade, forderte bei der Eröffnung, wegzukommen von einem negativen Migrationsbegriff, »der Mensch ist nun mal zum Glück ein ›homo migrans‹, sonst würde er immer noch in ostafrikanischen Steppen am Lagerfeuer sitzen«.
In den acht Räumen der Ausstellung spannt sich chronologisch ein Bogen von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, dabei werden »die politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, religiösen und kulturellen Zusammenhänge von Zuwanderung« hervorgehoben. Vor allem die Frage nach der staatlichen und zugleich rechtlichen Regulierung von Migrationsbewegungen haben die Ausstellungsmacherinnen dabei im Blick.
Insbesondere protestantische Glaubensflüchtlinge strömen zwischen 1500 und 1800 in das sich damals noch offiziell »Heiliges Römisches Reich« nennende Territorium der heutigen Bundesrepublik. Viele Landesherren nahmen die protestantisch-arbeitsamen Flüchtlinge aber nicht aus religiösen, sondern eher aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auf. Systematisch wurden zum Beispiel von den Preußen 20 000 Salzburger Protestanten in Ostpreußen aus ökonomischen Gründen angesiedelt. Und gleichzeitig gingen die Landesfürsten gegen auf der Straße lebende Bettler und Vaganten vor, die als »herrenlose« Menschen eine Bedrohung für den Ständestaat der Sesshaften darstellten.
Nach 1815 beginnt einerseits die große Binnenwanderungswelle von freigesetzten Landarbeitern mit ihren Familien in die neuen Industriestädte oder gleich weiter nach Amerika. Mit dem Eisenbahnbau erhöht sich auch die Mobilität der Wanderarbeiter. Über 5,5 Millionen »Deutsche« verlassen insgesamt das Land in Richtung USA. Andererseits setzte eine Wanderungsbewegung aus dem Gebiet des heutigen Polen und Weißrusslands nach Westen ein, um die fehlenden Arbeitskräfte in Ostpreußen zu ersetzen. Erst 1913 wird das im Kern bis zum Jahr 2000 geltende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz erlassen, das die Staatsbürgerschaft nicht mehr nach dem Territorialprinzip regelt, sondern nach der Abstammung. Bereits im ersten Weltkrieg werden Zivilisten aus Belgien und Russisch-Polen als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt, und nach dem Krieg müssen in Europa im Rahmen der Neuziehung der Staatsgrenzen rund zehn Millionen Menschen unfreiwillig Grenzen überschreiten.
Insgesamt rund 7,5 Millionen Zwangsarbeiter leben am Ende des Zweiten Weltkriegs im Kerngebiet des Deutschen Reichs, zwischen 12 und 15 Millionen »Deutschstämmige« müssen in den Jahren nach dem Krieg ihr Herkunftsland verlassen und ziehen nach Westen. Bereits ab 1955 beginnen in Westdeutschland erneut die Arbeitskräfte knapp zu werden, und so werden in den Jahren bis 1973 insgesamt 2,6 Millionen so genannte Gastarbeiter angeworben. Viele bleiben und werden zu Einwanderern. In der DDR leben zum Zeitpunkt des Mauerfalls etwa 190 000 Ausländer (ohne sowjetische Armeeangehörige), meist aus Vietnam, Angola und Mozambique. Danach gelingt auch vielen Flüchtlingen aus Ländern der Dritten Welt und Südosteuropas die Einreise nach Deutschland, bis 1993 das Grundrecht auf Asyl massiv eingeschränkt wird.
Spätestens hier steht man nun zwischen der Nähmaschine für die vietnamesische Vertragsarbeiterin und den Stahlrohrbetten für »Gastarbeiter« im letzten Ausstellungsraum und fragt sich, ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist. Alles wird erwähnt, alles angesprochen, auch die Angriffe auf die Flüchtlingsheime in Rostock-Lichtenhagen werden dokumentiert. Politisch völlig korrekt wird beschrieben, wie das »Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung alle legalen (!) Wanderungsbewegungen nach Deutschland regelt« und die Illegalen weiter außen vor bleiben. Die Gesetzestafeln werden konterkariert mit einer ziemlich brutalen Verhaftungsszene eines Schwarzafrikaners durch deutsche Polizisten auf dem Berliner Alexanderplatz.
Ist allein schon die Beschreibung der Zuwanderung an diesem offiziellen Ort ein Grund zum Jubeln? Am Ende vermittelt die Ausstellung das Gefühl, mit dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz 2000 und dem Zuwanderungsgesetz 2005 sei zumindest ein großes Kapitel der Zuwanderung »erfolgreich« abgeschlossen. Doch gibt es nicht genügend aktuelle Konflikte? Wie leben die etwa 500 000 Illegalen in Deutschland, wie kann ein Kind »ohne Papiere« eine öffentliche Schule besuchen, was passiert in Schulen mit fast 100 Prozent »nichtdeutschen« Kindern? Ist die Frage: »wie gehen wir als Aufnahmegesellschaft mit der Zuwanderung um«, konkret genug gestellt? Und ist dies Aufgabe eines Museums?
Deutlich zu spüren war bei der Pressevorführung der Wunsch der Kollegen, sich dem Thema der hugenottischen Migration zuzuwenden. Da kommen fleißige, arbeitsame Protestanten ins Land und entwickeln Preußen. Da kann sich die Ausstellungsmacherin Sabine Beneke noch so bemühen, einen differenzierten und reflektierten Blick auf die Hugenotten zu werfen, zum Beispiel darauf, wie sie mit ihrer Opfergeschichte in Europa hausieren gingen und schon damals ein »Krieg der Bilder« mittels Druckgrafiken stattfand. Doch aufgrund der Quellenlage werden in der Ausstellung bald die großen bildungsbürgerlichen Familien zentral, wie die de Maizières oder die Reclams, deren gelbe Heftchen wohl jede und jeder deutschsprachige Schüler/in schon mal in den Händen hielt. Denn wer schreibt und hinterlässt Dokumente zum Ausstellen? Auf jeden Fall nicht der ostpolnische Jude, der sich mit wenig Geld und meist ohne Papiere durch Deutschland schlägt, um auf ein Schiff nach Amerika zu kommen.
Die Ausstellung im DHM ist die dritte Ausstellung zum Thema Migration, die in diesem Jahr eröffnet wird. Bereits im Frühjahr hat das kleine Kreuzberger Heimatmuseum »300 Jahre Zuwanderung nach Kreuzberg und Friedrichshain« sehr anschaulich dargestellt, ausgehend von der hugenottischen Besiedlung der Oranienstraße. Und Anfang Oktober begann in Köln das »Projekt Migration«. So nähert man sich an drei Ausstellungsorten dem Thema vor allem von der künstlerischen und der subjektiven Seite der Migranten und ihrem Alltagsleben, unterstützt mit Millionenbeträgen der »Kulturstiftung des Bundes«. Die Berliner Ausstellung ist somit auch ein schönes Abschiedsgeschenk an die rot-grüne Bundesregierung.
Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005 und Die Hugenotten. Deutsches Historisches Museum, Berlin. Bis zum 12. Februar 2006