Erwachsen werden

Ja zu Aufklärung und Humanismus. Nein zu allen archaischen Mythen. Wir dokumentieren zwei Beiträge aus dem »Manifest des evolutionären Humanismus« von Michael Schmidt-Salomon

Wir leben in einer Zeit der Ungleichzeitigkeit: Während wir technologisch im 21. Jahrhundert stehen, sind unsere Weltbilder noch von Jahrtausende alten Legenden geprägt. Diese Kombination von höchstem technischen Know-how und naivstem Kinderglauben könnte auf Dauer fatale Konsequenzen haben. Wir verhalten uns wie Fünfjährige, denen die Verantwortung für einen Jumbojet übertragen wurde.

Eines der bedrückendsten Probleme der Gegenwart besteht darin, dass sich religiöse Fundamentalisten jeder Couleur in aller Selbstverständlichkeit der Früchte der Aufklärung (Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Wissenschaft, Technologie) bedienen, um auf diese Weise zu verhindern, dass die Prinzipien der Aufklärung auf den Geltungsbereich ihrer eigenen Weltbilder angewandt werden. So benutzten die Terroristen des »11. September« Flugzeuge, die nur dank wissenschaftlicher Erkenntnisse konstruiert werden konnten, um eine Weltanschauung zu stützen, die wissenschaftlichen Überprüfungen niemals standhalten würde. Im Gegenzug führte der »Fundamentalist mit anderen Mitteln«, George W. Bush, die Welt in einen verheerenden »Kreuzzug« gegen »den Terror« und die »Achse des Bösen«, wobei er sich einer Technologie bediente, die niemals entwickelt worden wäre, wenn sich die Wissenschaftler mit dem Kinderglauben des amerikanischen Präsidenten zufrieden gegeben hätten, dass der Schöpfungsbericht der Bibel wahr sei.

Angesichts der Gefahren, die aus der Renaissance unaufgeklärten Denkens in einem technologisch hoch entwickelten Zeitalter erwachsen, ist es eine Pflicht der intellektuellen Redlichkeit, Klartext zu sprechen – gerade auch in Bezug auf Religion. Fest steht: Wer heute ein logisch konsistentes (also widerspruchsfreies), mit empirischen Erkenntnissen übereinstimmendes (also unserem systematischen Erfahrungswissen entsprechendes) und auch ethisch tragfähiges Menschen- und Weltbild entwickeln möchte, muss notwendigerweise auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zurückgreifen. Die traditionellen Religionen, die bislang das menschliche Selbstverständnis prägten, können diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Sie sind nicht nur hinreichend theoretisch widerlegt, sie haben sich auch in ihrer Praxis als schlechte Ratgeber für die Menschheit erwiesen, wie nicht zuletzt der islamische Fundamentalismus oder die »Kriminalgeschichte« des Christentums belegen.

Das »Manifest des evolutionären Humanismus«, dem die Textauszüge dieses Dossiers entnommen wurden, wurde im Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung (www.giordano-bruno-stiftung.de) verfasst. Es versucht, die Grundpositionen einer »zeitgemäßen Aufklärung« zu formulieren. Die Verbreitung des Manifests erfolgt in der Absicht, jene zu bestärken, die sich der Leitkultur von Humanismus und Aufklärung bereits verpflichtet fühlen, sowie in der Hoffnung, dass einige der hier dargelegten Argumente auch jene erreichen mögen, die heute noch meinen, ihre »Lebensgewissheiten« aus archaischen Mythen beziehen zu müssen.

Das seit Jahrtausenden von mutigen Menschen vorangetriebene Projekt der Aufklärung verlangt uns Heutigen vor allem eines ab: kämpferischen Einsatz – etwas, was wir gerne Fußballspielern empfehlen, was aber im Bereich des rationalen Diskurses rar geworden ist. Aufklärer zählen nicht unbedingt zu den besonders beliebten Mitgliedern unserer Spezies (sie werden – wenn überhaupt – erst posthum dazu erklärt). Zu Lebzeiten gelten sie oftmals als schlimmes Ärgernis, decken sie doch unbequeme Missstände auf, die viele gerne unbeobachtet im Dunkeln belassen würden. Insofern ist es durchaus verständlich, dass sich mancher Gelehrte entscheidet, sein Leben als abgeklärter Opportunist und nicht als aufgeklärter Freigeist zu durchschreiten. Der Freigeist wird schnell zum »Freiwild«, während sich der Vertreter der Beliebigkeit angenehmer Beliebtheit erfreuen kann. Auch deshalb ist Aufklärung »out« und Abklärung »in«.

Je mehr Wissenschaftler, Künstler, Philosophen zusammenfinden und öffentlich ihr Engagement für Humanismus und Aufklärung bekennen, je klarer sie artikulieren, dass sie sich mit einer bloß »halbierten Aufklärung«, dem Nebeneinander von höchstem technischem Know-how und archaischem Mythos, nicht zufrieden geben, desto leichter wird es auch den bisher Unentschlossenen fallen, die eigene weltanschauliche Lauheit zu überwinden. Es ist von großer Notwendigkeit, dass wir alles daran setzen, endlich den Zustand der »kritischen Masse« zu erreichen, der zu einem Umkippen des weltanschaulich-ethischen Systems beitragen kann.

Wir können es uns nicht mehr leisten, mit der weltanschaulichen Mentalität von Fünfjährigen die Geschicke der Welt zu lenken. Wer das Atom spalten kann und über Satelliten kommuniziert, muss hierfür auch die erforderliche intellektuelle und emotionale Reife besitzen. Diese zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass man in der Lage ist, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen. So etwas kann nur bei klarem, wachem Verstand funktionieren. Deshalb ist es unverzichtbar, dass wir uns von all den lebensfeindlichen, kindlich-naiven Mythen trennen, die die bisherige Geschichte zu einem wahren Gruselstück verkommen ließen.