Deutsche Weltpolitik

Der Traum des Kaiserreichs vom »Platz an der Sonne«. Von Gerd Fesser

Die territoriale Aufteilung der Welt unter den Kolonialmächten war um 1900 nahezu abgeschlossen. Es setzte ein heftiges Ringen der Staaten um die letzten überseeischen Gebiete ein, die noch zu keinem der Reiche gehörten. Das waren vor allem China, das Osmanische Reich, Marokko und Persien. In Deutschland forderten Publizisten, Professoren und Wirtschaftsführer den Griff nach Übersee. Den Startschuss hatte Max Weber gegeben, der 1895 sagte: »Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und der Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.« Im Januar 1896 verkündete Kaiser Wilhelm II. stolz, aus dem Deutschen Reich sei ein Weltreich geworden.

Zu jener Zeit verschob sich das ökonomische Kräfteverhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der führenden Weltmacht Großbritannien dramatisch. So stieg von 1896 bis 1910 die englische Stahlproduktion um 154 Prozent, die deutsche um 1 335 Prozent. Das Kaiserreich war bei der Aufteilung der Welt in Kolonien und Einflusszonen zu spät gekommen. Das britische Kolonialreich umfasste um 1910 eine Fläche von fast 30 Millionen Quadratkilometern und zählte 377 Millionen Einwohner. Im deutschen Kolonialreich hingegen lebten auf einer Fläche von drei Millionen Quadratkilometern nur 12,3 Millionen Menschen. Begehrlich richtete man in den herrschenden Kreisen den Blick vom eigenen Kolonialbesitz auf das gigantische britische Weltreich.

Im Juni 1897 berief Wilhelm II. den Diplomaten Bernhard von Bülow ins Auswärtige Amt. Am 6. Dezember 1897 sprach Bülow zum ersten Mal vor dem Reichstag. Seine Ansprache erregte im In- und Ausland enormes Aufsehen. Die Kernsätze der Rede lauteten: »Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber … wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.« 

Drei Wochen zuvor hatten deutsche Marinesoldaten in China das Gebiet von Kiautschou (Jiaozhou) besetzt. Die Zusammenhänge dieser Okkupation bildeten den Schwerpunkt von Bülows Rede. Jeder, der sie hörte oder den Text in der Zeitung las, wusste, was Bülow meinte, wenn er von einem Platz an der Sonne sprach: Kolonien und Einflusszonen. Die Rede machte deutlich, dass das kaiserliche Deutschland eine riskante Expansionspolitik eingeleitet hatte, die sich vor allem gegen das britische Weltreich wandte. Die Antriebe dieser »Weltpolitik« waren vielfältig. Fast das gesamte Großbürgertum stand dahinter und setzte stark überzogene Erwartungen in eine ökonomische und koloniale Expansion. Bülow und andere Akteure der »Weltpolitik« wollten damit das Bündnis von Großbürgertum und Großagrariern vertiefen und festigen. Andererseits waren sie bestrebt, einen möglichst großen Teil des Volkes für ihre Politik zu gewinnen.

Etliche Jahre später umriss von Bülow die Aufgabe, die ihm 1897 übertragen worden war, wie folgt: »Entwicklung unseres Handels, Übergang zur Weltpolitik und insbesondere Schaffung einer deutschen Flotte ohne Zusammenstoß mit England, dem wir noch in keiner Weise gewachsen waren.« Die Stichworte »Handel, Weltpolitik, Flotte« deuten vage auf Wandlungen innerhalb der entwickelten Staaten und in den internationalen Beziehungen hin, die sich um die Jahrhundertwende vollzogen und für das Zeitalter des Imperialismus kennzeichnend waren.

Seit dem 30. November 1897 lag dem Reichstag der Entwurf eines Flottengesetzes vor. Die deutsche Flotte zählte damals sieben Schlachtschiffe, die britische 38. Die Flottenvorlage sah vor, die deutsche Flotte bis 1904 auf einen Stand von 19 Schlachtschiffen sowie acht Küstenpanzerschiffen und 42 Kreuzern aufzurüsten. Am 28. März 1898 nahm der Reichstag die Vorlage an. Doch bereits im folgenden Jahr kündigte die Regierung den Entwurf eines zweiten Flottengesetzes an. Diese Vorlage schrieb für die deutsche Kriegsflotte eine Sollstärke fest, die nahe an die der Royal Navy reichte: 38 Schlachtschiffe und 52 Kreuzer.

Mit den beiden Flottengesetzen gab die Reichsregierung eine indirekte Antwort auf die Frage, mit welchen Mitteln Deutschland einen »Platz an der Sonne« erringen könne. Bismarck hatte sich Mühe gegeben, ein gutes Verhältnis zu England zu wahren, und deswegen die deutsche Kriegsflotte klein gehalten und die Kolonialexpansion begrenzt. Bülow hatte 1897/98 entscheidenden Anteil daran, dass die deutsche Politik sich von diesen Maximen abwandte. Die Briten empfanden die deutsche Flottenrüstung als eine gefährliche Bedrohung der Verbindungswege zu ihren Kolonien.

Von Bülow, der 1900 Reichskanzler wurde, blieb zwölf Jahre lang der leitende Politiker des Kaiserreichs. Er hat die imperialistische »Weltpolitik« nicht erfunden, sie aber auf griffige Formeln gebracht und geprägt. Seine »Weltpolitik« war darauf gerichtet, vorteilhafte Konstellationen der internationalen Politik improvisierend zu nutzen. In den ersten Jahren seiner Amtszeit brachte die »Weltpolitik« mit dem Erwerb eines pazifischen Inselreiches (Samoa, Marianen, Karolinen, Palau-Inseln) und dem Baubeginn der Bagdad-Bahn einige Erfolge.

Der außenpolitische Spielraum der Reichsregierung wurde jedoch bald durch die deutsche Flottenrüstung eingeschränkt. Deren Initiatoren waren Wilhelm II. und Admiral Alfred Tirpitz sowie Konzerne der Rüstungs- und Werftindustrie. Von Bülow trug diese Politik mit, wobei er zunächst ihre verhängnisvollen Auswirkungen auf die deutsch-britischen Beziehungen nicht erkannte. Er setzte darauf, die Spannungen, die zwischen den rivalisierenden Weltmächten England und Russland bestanden, auszunutzen.

Die deutsche Weltmachtpolitik erwies sich schließlich als Fehlkalkulation und trug zur Isolierung des Kaiserreichs bei. Großbritannien, Frankreich und Russland stellten ihre alten Divergenzen zurück und schlossen sich zur Triple-Entente zusammen. Die Versuche Bülows und seines Nachfolgers Theodor von Bethmann-Hollweg, sich mit den Briten über eine Begrenzung des Flottenwettrüstens zu verständigen, wurden von Tirpitz und Wilhelm II. durchkreuzt. 1914 mündeten die Rivalität und das Wettrüsten, zu deren Verschärfung das deutsche Streben nach einem »Platz an der Sonne« so viel beigetragen hatte, in den Ersten Weltkrieg.