Der Blick hinter den Vorhang

Zur Ausstellung »Sexarbeit« im Hamburger Museum der Arbeit. von tim stüttgen

Schon im Aufzug, in dem ich mit einer alten Dame stehe, werde ich von der Seite angemacht. Nachdem wir beide durch zwei Stockwerke voller alter Maschinen im Hamburger Museum der Arbeit gelaufen sind, fahren wir in den dritten Stock. »Hey du«, flüstert auf einmal eine laszive Stimme, »bleib mal stehen!« »Komm doch mal her!« sagt eine andere. Doch den roten Teint auf ihrem Gesicht bekommt die Dame mir gegenüber erst, als ähnlich einladende Worte von einer samtigen Männerstimme auf dem Tonband wiederholt werden. Dann öffnet sich die Tür, und wir betreten einen roten Salon, wie er in jeder historischen Bilder- und Mythensammlung alter Hurenhäuser vorkommt. An den Wänden hängen Peitschen, Poster von Filmen, devote Briefe von SM-Sklaven und unterarmgroße Dildos.

Gerade waren wir dabei, uns zurecht zu finden, als unsere Ruhe gestört wird. Ein Lehrer betritt mit seiner Schulklasse den Raum, überprüft noch einmal, ob alle seine Schüler schon 16 Jahre alt sind, wie am Eingang gefordert wird. Die Teenager verteilen sich auf den riesigen Plüschbänken. Drei geschlechtsspezifisch getrennte Gruppen von Jungs und Mädchen hören dem pädagogisch geschulten Mann Mitte 40 zu. Er wird sie nun einführen in die erste große deutsche Ausstellung über Sexarbeit, die, wie könnte es anders sein, in der deutschen Prostitutionshauptstadt Hamburg stattfindet. Weit ab von den dreckig-glamourös in das Stadtbild integrierten Meilen St. Paulis und auch fern vom kaputten Straßenstrich St. Georgs, wird das »älteste Gewerbe der Welt« erstmals in einem derartigen Kontext ernsthaft und ausführlich musealisiert.

Dabei hat die Kuratorin Elisabeth von Dücker den Begriff »Sexarbeit« politisch angemessen als Titel für die Ausstellung verwendet, um auf die Kämpfe der Prostituierten für Enttabuisierung und gesetzliche Rechte, Anerkennung und Selbstbestimmung zu reagieren. Die Ausstellung findet nicht umsonst im Museum der Arbeit statt und weist schon durch den Industrievorhang, den wir durchqueren müssen, um in den Innenraum zu kommen, auf den Arbeitscharakter des Sexgewerbes hin. Was keine schlechte Idee ist: Durch den konkreten Verweis auf Industrie, Ökonomie und (biopolitische) Produktion findet sie nicht nur einen angemessenen Rahmen, sondern auch einen Diskursstrang, der das Thema Prostitution einmal jenseits von Tabu und Mythos, Opferblick und Sensationalismus diskutiert.

Ich ergreife die Chance auf einen Vorsprung vor der rumorenden Schulklasse und betrete den Raum, der eine ähnliche Hermetik wie die bekannte Herbertstraße, Hamburgs für Frauen gesperrte Rotlichtfenstergasse auf der Reeperbahn, aufweist. Auf jeder Seite befinden sich um die zehn Fenster mit Artefakten und, wie der Lehrer in seiner Einführung betonte, »authentischen Gegenständen«, Kondom-Werbungen, alten Photos vom Transenstrich aus den siebziger Jahren oder zeitgenössische von Strip-Tänzerinnen im Backstage-Alltag zwischen Erschöpfung und Langeweile.

Auf dem Boden dazu eine Kartographie: Pfeile und Begriffe, als würde man eine Landkarte belaufen, die uns in verschiedene kleine Räume führt, offensichtlich an der Größe der Arbeitszimmer der SexarbeiterInnen orientiert. »Gesundheit« steht zum Beispiel an einem Eingang, drinnen dann eine Kartei voller grüner Pappordner, in denen die gesundheitlichen Daten offiziell gemeldeter SexarbeiterInnen Deutschlands lagern, die man selber einsehen kann. Daneben ein Stuhl aus der Frauenarzt-Praxis, auf dem die Professionelle jeden Monat Platz nimmt. Die Arbeit fängt eben am Körper selbst an, der deutlich öfter als bei anderen Bürgern untersucht und beobachtet werden muss.

Wie umfangreich die Arbeit einer Prostituierten ist und wie sie sowohl gesellschaftlich als auch in der Selbstdarstellung der SexarbeiterInnen selber unsichtbar gemacht wird, beschreiben mehrere Wandtafeln. Die aktuell 4 000 als aktiv gemeldeten Frauen und 1 000 Männer in Deutschland müssen nicht nur Gesundheitskompetenz, sondern auch Arbeitsdisziplin besitzen, Kunden gewinnen und zufrieden stellen, kommunikatives Einfühlungsvermögen und dazu Übersicht beweisen, um die Zielgruppe und deren Geilheit und Abhängigkeit, Neugier und Schüchternheit, Alkoholkonsum und mögliche Gewaltbereitschaft mit Menschenkenntnis einschätzen und so erfolgreich wie professionell betreuen zu können.

Erst im Jahre 2002 wurde in Deutschland Sexarbeit sozialversicherungspflichtig und gewerkschaftlich endgültig eingebunden. Dies war eine Reaktion auf die These, dass das Stigma Unsichtbarkeit der ArbeiterInnen, von denen circa 50 Prozent Migrantinnen sind, nur zu einer prekäreren und gefährlicheren Lebenssituation führe. Andere Länder, wie beispielsweise Schweden, reagieren anders auf die Bedingungen und haben Prostitution mit hoher Zustimmung der Bevölkerung wieder illegalisiert. Fortschrittlich bei der Legalisierung ist vor allem, dass nun nicht mehr die ArbeiterInnen, sondern die Freier für das Begehen eines kriminellen Akts bestraft werden können. Auch Freier-Profile, die sich mit den Persönlichkeitsstrukturen der Kunden beschäftigen, sind in der Ausstellung zu finden. Zwischen dem schüchternen Zweifelnden und dem Sexsüchtigen finden sich dabei kaum Klischees, die nicht bestätigt werden.

Warum jedoch dieses riesige, intelligent präsentierte und übersichtlich angeordnete Archiv weder schockiert noch beeindruckt und nur hin und wieder, wie bei den lustigen, aber bekannten Beiträgen der Porno-Künstlerin Annie Sprinkle, sogar amüsiert, liegt an der klaren Linie des Projekts. Wo man primär auf Information und Aufklärung setzt, bleibt wenig Platz für hochtrabende Thesen oder polemische Zuspitzungen. So hat die Ausstellung im Hamburger Kontext schon fast etwas Alltägliches. Es ist kaum vorstellbar, dass sie den Einwohnern der Stadt viel Neues beibringen kann, wenn diese schon einmal mit offenen Augen durch Hamburg gelaufen sind und sich mit den lokalen Bedingungen beschäftigt haben.

Umso spannender und wichtiger wäre es deswegen, wenn diese aufklärerische, dreidimensionale Kartographie der Sexarbeit auch in anderen Städten, Ländern, ja sogar Kontinenten zu sehen wäre, um einer immer noch mit vielen Klischees und Spießigkeiten geführten Debatte einen fokussierten Informationsraum gegenüberzustellen, mit dessen öffentlichem Beitrag sich vortrefflich weiter diskutieren ließe. Die Tatsache, dass Sexarbeit nun im Museum und damit auch im Zentrum der Kultur angekommen zu sein scheint, sollte nicht als Zäsur oder gar Beendigung des Diskurses um sie, sondern als auch in Zukunft präsente Bedingung des kapitalistischen Alltags zwischen Begehren und Kapital verstanden werden, der jeden etwas angeht, der als begehrendes Subjekt oder begehrtes Objekt durch den öffentlichen Raum spaziert.

»Sexarbeit« im Hamburger Museum der Arbeit. Bis zum 26. März 2006