Kranke Krake

Es war ein Fehler, den Staat mit Dr. Mabuse zu verwechseln. von stefan ripplinger

Viele absurde politische Aktionen habe ich erlebt, aber die absurdeste war doch der Boykott der Volkszählung 1987. Der Aufwand, der damals getrieben wurde, die Neugier des Staates abzuwehren, ist gar nicht mehr zu begreifen in einer Zeit, in der Hinz seine Neugier, was Kunz für einer ist, per Google befriedigen kann.

Es ließe sich einwenden, dass es nicht viel gekostet hat, dem erfassenden Beamten auszuweichen oder den Erfassungsbogen zu zerschneiden. Aber das ist nicht wahr. In einigen Fällen hat es sehr viel gekostet. Einer meiner Bekannten wurde gar vor ein Gericht gezerrt. Anders als wir andern, hatte er sich vor dem Volkszähler nicht in die Ausflucht gerettet, er müsse gerade aus dem Haus und um den Bogen kümmere er sich später, sondern ihm ins Gesicht gesagt, er sei nicht gewillt, seine staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen. Das führte zu Verwarnung, Geldstrafe, Mahnung und schließlich Gerichtsverfahren. Mein Bekannter hatte seine Unbotmäßigkeit bereits in der DDR mit mehreren Jahren Haft in Bautzen bezahlt, und nun bezahlte er wieder.

Solchen Widerstand gegen die Staatsgewalt achte ich, doch hätte ich ihm einen besseren Anlass gewünscht. Dieser Widerständler hatte bereits seine Erfahrung mit einem Staat gemacht, und alle Staatsapparate ähneln sich am Ende. Aber was steckte hinter der von Linken des Westens gepflegten Vorstellung, die Polizei wolle wissen, wer sie sind? – Im Wesentlichen doch eine Überschätzung ihrer selbst und des absterbenden Leviathan. Seit im Februar 1977 herausgekommen war, dass der Atomkraft-Spezialist Klaus Traube abgehört wurde, galt auch die Privatsphäre weit weniger wichtiger Persönlichkeiten als bedroht. Der deutsche Herbst nährte diese Furcht ganz natürlich. Lange Zeit gefiel man sich darin, bei jedem Telefonat dem Gegenüber zu bedeuten, der Verfassungsschutz höre mit. Einige wenige hatten Grund, das anzunehmen, die meisten aber nicht.

Und so war der Schutz des bürgerlichen Individuums, eben jenes Prinzip, das man über hundert Jahre lang mit allen Mitteln von Theorie bis Partei und Kommune zu untergraben gesucht hatte, zu einem politischen Ziel aufgerückt. War man vorher, gewissermaßen in der kollektivistischen Phase, gelegentlich von Faschisten und Frömmlern nur mit Mühe zu unterscheiden, unterschied man sich nun, in der individualistischen, von der FDP nur durch größere Aufgeregtheit und Konfusion. Der Konflikt zwischen Bullen und Bürgern lässt sich leichter begreifen als die Kapitalisierung der Verhältnisse, die Vorstellung von einem krakenartigen Überwachungsstaat einer kindlichen Phantasie leichter beibringen als Klassenbewusstsein.

So war also im Jahr 1987 das politische Vorstellungsvermögen so weit regrediert, dass es vielen als wahrscheinlich galt, der Staat halte wie ein kingkonggroßer Dr. Mabuse oder ein automatischer Horst Herold nicht nur ein Dossier über jeden bereit, sondern verstehe es auch, Informationen so zu vernetzen, dass ihm schließlich alle ins Netz gingen. Bald darauf wurden allerorten Kontrollkameras gesichtet, der Kampf gegen die Biometrik hielt die universitäre Linke in Atem. Es ist aber gar nicht schwer einzusehen, dass je mehr Daten einer sammelt, er umso mehr Mühe hat, sie auszuwerten. Wie schon 1977 galt auch 1987 und 1997, dass einzelne – z.B. Geheimnisträger wie Traube, Unterstützer der RAF, Migranten – Grund hatten, sich bedeckt zu halten, die andern aber sich etwas vormachten, wenn sie sich beobachtet vorkamen, obwohl doch niemand etwas von ihnen wissen wollte.

Wenig später, im Jahr 1998, zeigte sich nämlich, ein wie großer Denkfehler es war, sich im politischen Kampf auf den Staat zu kaprizieren. Während die Linke sich den Alptraum, er wachse pilzartig, genüsslich ausmalte, hatte längst sein Zerfall eingesetzt, der nun nicht mehr zu übersehen war. Unter der Regierung Schröder setzte sich wesentlich rascher fort, was schon zuvor mit der Privatisierung von Staatsbetrieben begonnen hatte. Der Staat löste sich in Firmen auf und zog sich ansonsten auf seine Nachtwächteraufgabe zurück (der er übrigens brutal genug nachkommt).

Nun ließ sich auch erkennen, dass die Privatsphäre einen feuchten Kehricht wert ist, wenn nicht ein phlegmatischer Beamter den Erfassungsbogen ausfüllt, sondern der Personalchef. Selbst persönliche Vorlieben müssen nun offen gelegt werden. Seit einiger Zeit hat kein Raucher mehr eine Chance auf einen gut bezahlten Job, wer raucht, muss das schon beim Bewerbungsgespräch verraten – welch einen Aufschrei es gegeben hätte, hätte der Volkszählungsbogen nach Tabak- und Alkoholabusus gefragt! Eine neue Generation von aufstrebenden Arbeitswilligen nimmt keinen Anstoß mehr daran, ihre Empfindungen zu prostituieren und mit einem Unternehmen zu verwachsen, als ob es eine Familie wäre. Eine solche Preisgabe der eigenen Persönlichkeit, oder was davon übrig ist, hatten in den achtziger Jahren weder Führungskräfte noch die untersten Lakaien zu gewärtigen.

Indem nun staatliche Funktionen in die Hände von mehr und mehr selbstständig wirtschaftenden Betrieben gelegt werden, nimmt auch die Bevormundung der von staatlicher Hilfe Abhängigen vorher unvorstellbare Züge an. Kürzlich hörte ich von einer krebskranken Frau, die in Berlin zur Agentur für Arbeit ging, um einen Umzug zu beantragen. Ihre Krankheit sei bereits so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr Treppen zu ihrer Wohnung steigen könne und deshalb bereits in den letzten vier Monaten bei Bekannten gewohnt habe. »Wenn das so ist«, entgegnete der Sachbearbeiter, »dann müssen wir die von uns bezahlte Miete der letzten vier Monate zurückfordern.«

Es geht also niemals allein um Informationen, sondern stets darum, wer was aus ihnen machen kann. Solange nicht richtig analysiert ist, wie die Machtverhältnisse liegen, hilft alle Einsicht in die Informationsverteilung nicht viel. Nun ist aber im Zuge der Deregulierung viel schwerer vorauszusehen, wer auf Informationen wie reagiert. Die erwähnte Frau konnte unmöglich auf die Reaktion des Bearbeiters vorbereitet sein. In einer anderen Zweigstelle der Agentur hätte man ihr vielleicht den Umzug anstandslos und mit Anstand bewilligt. Aber da Arbeitsämter sich in Betriebe verwandeln, die mit ihrem knapper werdenden Budget haushalten müssen, ist Takt konjunkturabhängig. Der alten Bürokratie hingegen waren alle gleich, sie wollte manches wissen, vergrub aber die Daten unter ihren Dokumentenbergen. Sie hatte keinen Ehrgeiz, sie half niemandem freiwillig, aber ließ höchstens aus Versehen einen über die Klinge springen.

So wiederholt sich im Umgang mit dem Privaten die Zweiteilung der Gesellschaft. Die sich noch etwas versprechen oder versprechen dürfen, können sich gar nicht weit genug öffnen und füllen ihre Bewerbungsmappen mit den intimsten Details. Die die Hoffnung aufgegeben haben, müssen selbst noch ihr wurmstichiges Klavier vor dem Zugriff der Inkasso-Agenten schützen. Das Private scheint nur dann einen Wert zu besitzen, wenn einer vom Kollektiv abhängt. Wer aber als Privater in die Privatwirtschaft strebt, muss sich ohnehin restlos kollektivieren wollen.