Leben zwischen allen Fronten

Millionen Menschen an der kolumbianischen Pazifikküste sind vor der Gewalt des Bürgerkriegs auf der Flucht.

María Ramírez* kniet neben ihrem Mann, der reglos am Boden liegt. Ihre Schultern zittern. Wortlos sieht sie zu, wie einige Männer den schweren Körper aufheben und wegschleifen. Es sind dieselben Männer, die kurz zuvor maskiert und bewaffnet ins Dorf gestürmt sind. Zwei ihrer Kugeln trafen Marías Mann. Die junge Kolumbianerin schweigt. Zu groß ist die Angst, dass sie wiederkommen und ihr auch noch eines ihrer Kinder nehmen.

Applaus. María Ramírez steht auf und klopft sich den Staub von den Knien. Der Mann, der gerade weggetragen worden ist, kommt zurück und stellt sich neben sie. In seinem zerfurchten Gesicht ein verlegenes Grinsen. Um ihn herum stehen seine Mörder, die Holzgewehre lose über die Schulter geworfen. Eine junge Frau mit einem Mikrophon in der Hand tritt dazu. »Gut«, sagt sie und nickt in die Runde, »vielen Dank.«

Die Szene ist gespielt, nachgestellt in einer kleinen Schule im Viertel Matía Mulumba, am Rande der südkolumbianischen Stadt Buenaventura. Die Geschichte ist echt. Vor vier Jahren wurde María Ramírez’ Mann von Paramilitärs ermordet. Sie floh mit ihren beiden Söhnen nach Buenaventura.

So oder so ähnlich lauten auch die Geschichten derer, die sich auf wackeligen Plastikstühlen versammelt haben, um dem kurzen Theaterstück zu folgen. Über 70 Familien sind in Matía Mulumba in den vergangenen Jahren angekommen. Sie haben Morde oder Massaker durch Paramilitärs oder die Guerilla erlebt und Freunde oder Familienangehörige verloren. Die Theateraufführung und die anschließende Gesprächsrunde, organisiert von einer lokalen Nichtregierungsorganisation, sollen ihnen helfen, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten.

Die Schauspieler und das Publikum sind desplazados, Vertriebene. So heißen in Kolumbien Menschen, die vor der Gewalt des seit über 40 Jahren tobenden Krieges geflohen sind, um anderswo, meist in den Städten, Schutz zu suchen. Sie kommen aus ländlichen Gebieten, wo sich Armee, Guerilla und Paramilitärs blutige Kämpfe liefern. Die Zivilbevölkerung gerät dabei zwischen alle Fronten. »Als wir die Guerilla nicht ins Dorf lassen wollten, beschuldigte sie uns, die Paras zu unterstützen«, erzählt María Ramírez. »Eine Woche später kamen die Paras und haben vier Männer umgebracht. Zur Strafe dafür, dass ihr mit den Subversiven zusammenarbeitet«, sagten sie.

Gewalt gegen die Bevölkerung geht von allen bewaffneten Gruppen aus. Die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen machen jedoch die ultrarechten paramilitärischen »Selbstverteidigungsgruppen«, die einst mit der Unterstützung der Regierung zur Bekämpfung der Guerilla gebildet wurden, für den größten Teil der gezielten Angriffe verantwortlich. Mit dem Anwachsen des Paramilitarismus seit den neunziger Jahren hat die Vertreibung dramatische Ausmaße angenommen. Auch der von Staatspräsident Álvaro Uribe eingeleitete »Demobilisierungsprozess« verspricht keine Entspannung der Lage.

Zwar geben Angehörige paramilitärischer Gruppen medienwirksam ihre Waffen ab, es zeichnet sich jedoch keine Auflösung ihrer Strukturen ab. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem Projekt der Straflosigkeit, das lediglich zur weiteren Paramilitarisierung der Gesellschaft beitrage. Sie verweisen auf die engen Verbindungen zwischen dem Präsidenten und den Paramilitärs. Die Gewalt hält an, die Zahl der desplazados wächst.

Wie viele Menschen in Kolumbien auf der Flucht sind, weiß niemand genau. Die Regierung spricht von zwei, nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 3,5 Millionen. Die Hafenstadt Buenaventura an der Pazifikküste gehört zu einer der Regionen des Landes, die am stärksten von der Vertreibung betroffen sind. Allein in der ersten Jahreshälfte haben hier über 1 000 Menschen ihr Zuhause verlassen. Nach Angaben des staatlichen Flüchtlingsbüros leben in der 190 000 Einwohner zählenden Stadt über 34 000 Flüchtlinge, täglich werden es mehr.

»Für die desplazados ist es hier noch schwieriger als anderswo. Mehr Armut, mehr Gewalt, mehr Korruption«, sagt José Gómez. Der hoch gewachsene Mann mit der Baseballkappe ist Lehrer in einem der ärmsten Stadtviertel, viele seiner Schüler kommen aus Flüchtlingsfamilien. Warum gerade hier so viel Armut herrscht? Gómez zeigt auf seinen Handrücken. »Das hat mit unserer Hautfarbe zu tun.«

Knapp 98 Prozent der Menschen an der südlichen Pazifikküste sind Afrokolumbianer. Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern gehören die Einwohner in Kolumbien mehrheitlich zu den Ärmsten der Gesellschaft. »Wir werden vom Rest des Landes diskriminiert«, sagt Gómez. »Die Regierung investiert nicht in die Region. Obwohl wir hier einen der beiden wichtigsten Häfen haben. Investiert wird in Städte wie Bogotá oder Medellín.« Die Arbeitslosigkeit in Buenaventura beträgt 65 Prozent, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt mit 51 Jahren mehr als zehn Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt.

»Buenaventura ist ein vergessener Winkel. Aber wir wehren uns.« In Gómez’ Stimme schwingt Stolz mit, wenn er von den sozialen Bewegungen in der Stadt erzählt. »Das Kämpferische hier, das kommt noch aus den Zeiten der Sklaverei.« Der 38jährige ist selbst seit Jahren politisch engagiert. Gemeinsamer Bezugspunkt der Gruppen, die sich für ihre Rechte als Afrokolumbianer einsetzen, ist das Jahr 1998. »Lo del puente«, sagen die Leute, »das mit der Brücke.«

3 000 Menschen besetzten damals die einzige Verbindung zwischen dem Festland und dem auf einer Insel gelegenen Stadtzentrum. Tagelang war der Hafen blockiert. Gómez erzählt gern von damals. »Zum ersten Mal haben wir die Angst überwunden. Die Leute sind einfach auf die Straße gegangen, Flüchtlingsgruppen, Bauernorganisationen, Gewerkschaften, alle waren dabei.« Als der lokale Armeekommandant sich weigerte, die Brücke gewaltsam zu räumen, wurde er strafversetzt. Nach Verhandlungen verließen die Besetzer die Brücke freiwillig. Auf eine Realisierung der Verhandlungsergebnisse warten sie allerdings bis heute. Mangelndes politisches Interesse und Korruption haben die für Straßenbau und soziale Projekte vorgesehenen Gelder irgendwo auf dem Weg nach Buenaventura versickern lassen.

Der Krieg kam erst spät in die Region. »Die Guerilla ist schon seit Anfang der neunziger Jahre hier, aber sie hielt sich in unbewohnten Gegenden auf und griff die Bevölkerung nicht an«, erinnert sich Gómez. Doch Buenaventuras Hafen liegt strategisch günstig, auch für den internationalen Drogenhandel, in den Paramilitärs und Guerilla verstrickt sind. »Mit der Ankunft der Paras im Jahr 2000 begannen die Massaker. Im Fluss tauchten verstümmelte Leichen auf. Wir fingen an, den Krieg am eigenen Leib zu erfahren.« Gómez erhält selbst Todesdrohungen. »Ich stehe auf jeden Fall auf irgendwelchen Listen«, sagt er.

Über 130 Menschen sind in der Stadt seit Beginn des Jahres umgebracht worden, die meisten von ihnen afrokolumbianische Jugendliche. Gómez weiß nicht mehr genau, wie viele seiner Schüler in den letzten Jahren getötet wurden. »Gegen schwarze junge Männer wird systematisch Gewalt ausgeübt, egal ob sie politisch aktiv sind oder nicht.« Die Paramilitärs sind für ihre Aktionen »sozialer Säuberung« berüchtigt. Angaben von Menschenrechtsorganisationen zufolge können sie dabei häufig mit dem Wohlwollen oder gar der Unterstützung des Militärs rechnen.

Jüngst kam es zu einem Massaker, das Entsetzen im ganzen Land hervorrief. 24 Jugendliche »verschwanden« spurlos, nachdem sie von Unbekannten zu einem Fußballspiel mit Siegerprämie eingeladen worden waren. Zwei Tage später wurden zwölf von ihnen aufgefunden. Ihre Körper waren von Folterspuren entstellt, sie wurden durch Kopfschüsse getötet. Über das Schicksal der anderen zwölf ist nichts bekannt. Fünf Mitglieder einer paramilitärischen Einheit sind inzwischen verhaftet worden. Doch die meisten Strafverfahren wegen Tötungsdelikten verlaufen ergebnislos.

In der kleinen Schule spielt María Ramírez ihre Ankunft in Buenaventura nach. Sie wartet vor der Registrierungsstelle des staatlichen Flüchtlingsbüros. Endlich an der Reihe, wird sie aufgefordert, ihre Situation zu schildern. Der Schmerz steht ihr ins Gesicht geschrieben, als sie vom Überfall auf ihr Dorf erzählt. Sie weint. Die Grenzen zwischen Schauspiel und Realität verschwimmen.

Für die desplazados beginnt nach der Flucht eine Odyssee durch die Institutionen auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. Viele zögern jedoch, sich registrieren zu lassen. »Wir werden stigmatisiert. Als hätten wir eine ansteckende Krankheit. Als desplazado wirst du sofort verdächtigt, etwas mit der Guerilla zu tun zu haben.« Aus der Stimme der jungen Frau klingt Empörung. Sie tippt sich an die Stirn. »Wir tragen einen Stempel.« Teresa Palacio weiß, wovon sie spricht. Vor vier Jahren floh die heute 32jährige mit ihren zwei kleinen Söhnen bei einem »Anti-Terror-Einsatz« der Armee aus ihrem Dorf. Zurücklassen musste sie neben ihrem Zuhause auch ihre große Leidenschaft: die Arbeit in einem Bildungsprojekt mit medizinischen Heilpflanzen.

Schon vor der Flucht arbeitete Teresa Palacio ehrenamtlich für die Organisation »Proceso de Comunidades Negras« (PCN), den politischen Dachverband der Schwarzengemeinden. Zusammen mit Kollegen hat sie nun die Theateraufführung in Matía Mulumba organisiert. »Es geht nicht nur darum, über traumatische Erfahrungen zu sprechen. Ich möchte auch erreichen, dass sich die desplazados nicht verstecken.«

Teresa Palacio ist eine kleine und energische Person. Sie lacht gern, auch wenn sie über ernste Dinge spricht, und ihre schwarzen Locken hüpfen dann in alle Richtungen. Ihr neues Zuhause ist eine kleine Holzhütte am Stadtrand. Mit verschiedenen Jobs finanziert sie ein Fernstudium und die Schulgebühren der Söhne. Das Geld ist knapp, aber bisher reicht es – irgendwie. Die Leute helfen einander, sagt sie, aber es ist schwierig. »Stell dir vor, du kommst mit deinen fünf oder drei Kindern bei Verwandten an. Du hast nichts, mit dem du irgendwas zum Haushalt beitragen könntest. Besuch ist wie Fisch«, sagt sie, und wedelt lachend mit der Hand vor ihrer Nase, »nach drei Tagen fängt er an zu stinken.«

Auch die völlig anderen Lebensbedingungen in der Stadt machen den desplazados zu schaffen. Vor der Flucht haben sie sich von Landwirtschaft und Fischfang ernährt. Sie waren unabhängig. »Die Vertreibung ist der schlimmste Ausdruck des Krieges«, sagt Palacio. »Sein Dorf verlassen und fortan auf den guten Willen der anderen hoffen zu müssen – man wird vom Hausbesitzer zum Bettler.«

Nicht alle aus Teresa Palacios Heimatdorf sind gegangen. »Resistimos«, sagen sie, wir leisten Widerstand. Wo Millionen aus Angst ihr Zuhause verlassen, dort kann Widerstand schon bedeuten, dass man bleibt, wo man ist. Vor allem die Älteren entscheiden: »Lieber sterbe ich in Würde hier als in Buenaventura als Bettler.«

Das kleine Fischerdorf am Fluss Anchicayá ist nur über eine holprige Landstraße oder mit dem Kanu zu erreichen. Je nachdem, wie viel es geregnet hat, dauert die Bootsfahrt vier Stunden oder einen ganzen Tag. Das träg fließende Wasser ist von grünem Dickicht gesäumt, vereinzelt ragen Palmen in den Himmel, hin und wieder flattert irgendwo ein Vogel auf. Doch die idyllisch anmutende Ruhe trügt.

Das Gebiet wird zu großen Teilen von der Guerilla kontrolliert. Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen mit Einheiten der Bundesarmee oder mit paramilitärischen Gruppen. Am Ufer sind die Spuren der Vertreibung zu sehen. Verwaiste Dörfer, heruntergekommene Holzhütten, von Unkraut überwucherte Felder, die niemand mehr bestellt.

Für diejenigen, die noch in der Region leben, ist zur Bedrohung durch den Krieg eine weitere Gefahr hinzugekommen. Bei genauem Hinsehen erkennt man am Ufer einen breiten grau-braunen Streifen, auf dem nichts wächst. Ein leichter Geruch nach Fäulnis hängt über dem Wasser. »Der Fluss ist tot«, sagt ein Anwohner, »und die Regierung zeigt kein Interesse daran, dass hier wieder Leben entsteht.«

Im Juli 2001 lenkte das spanische Unternehmen Empresa de Energía del Pacífico aus einem nahe gelegenen Wasserkraftwerk ungefilterten Klärschlamm in den Fluss und verursachte eine Umweltkatastrophe. Fische und Pflanzen starben, binnen weniger Tage wurde die Lebensgrundlage der Fischerdörfer zerstört. Die Menschen in der Region leiden an Durchfall und Hautausschlägen. Die Betreiberfirma leugnete jegliche Verantwortung, das Umweltministerium blieb untätig.

Als die Gemeinden mit Hilfe des PCN vor Gericht gingen, gelangte der Fall bis in die internationale Presse. Eine endgültige Entscheidung steht noch aus und das Verfahren kann sich über Jahre hinziehen. Länger als jedes Gerichtsverfahren wird es dauern, bis sich der Fluss regeneriert hat.

Teresa Palacio möchte trotz allem irgendwann zurückgehen und ihr Heilpflanzenprojekt wieder aufbauen. Wenn sie von zu Hause erzählt, von Landwirtschaft und Fischfang, schwingen Stolz und Begeisterung in ihrer Stimme mit. »Ich möchte, dass die Leute wenigstens über eine Rückkehr nachdenken. Allein der Gedanke kann einem schon Mut machen.«

In Matía Mulumba ist die letzte Theaterszene zu Ende gegangen. Teresa Palacio steht mit dem Mikrofon vor dem Publikum und blickt in ernste Gesichter. Es ist vollkommen still. Die angespannten Mienen der Zuschauer verraten, dass Erinnerungen hochkommen. Palacio bricht das Schweigen. »Also, was hat das hier mit eurer Geschichte zu tun?« Zögernd beginnen Schauspieler und Publikum zu erzählen, vom Leben vor und nach der Flucht, von der Angst davor, wie es weitergehen soll.

»Die Armee verspricht, uns zu schützen, wenn wir zurückgehen«, sagt María Ramírez, »aber nach einem Tag ist sie weg und wir bleiben allein zurück.« Einige nicken zustimmend. Das Schweigen ist gebrochen, immer mehr melden sich zu Wort, das Mikrofon wandert durchs Publikum. Am Schluss landet es wieder bei Teresa Palacio. »Allein kommen wir nicht weiter. Aber zusammen sind wir mehr als die Summe aller Einzelnen«, sagt sie. Es klingt unpathetisch, eine einfache Feststellung. Später, auf dem Weg nach Hause, fügt sie hinzu: »Bei vielen ist die Angst so groß, dass sie gar nicht an eine Rückkehr denken können. Vielleicht noch nicht. Aber ich möchte ihnen klar machen, dass wir nicht völlig hilflos sind, dass wir auch als desplazados für unsere Rechte kämpfen können.«

Auf die Frage, ob ihre Arbeit nicht gefährlich sei, bleibt sie ernst. »Nun ja, man muss seine Grenzen kennen. Märtyrer können wir nicht gebrauchen.« Und dann huscht doch noch ein Grinsen über ihr Gesicht: »Ich bin hier auf jeden Fall lebend viel nützlicher als tot.«

* Alle Namen von der Redaktion geändert