Sag Adieu!

Schicksal einer Telefonzelle

Jeden Morgen radele ich den Prenzlauer Berg hinunter und komme an dieser einsamen Telefonzelle vorbei. Es gibt in Berlin kaum noch welche, die meisten wurden ersetzt durch Marterpfähle, die im Wind und im Regen herumstehen und an denen man gar nicht telefonieren will. Aber dort, in der Nähe des Alexanderplatzes, gibt es noch eine echte Telefonzelle, eine richtige Kabine, in der man gerne verweilt, etwa wenn es draußen zu regnen beginnt, der Schneefall einsetzt oder der Wind sich verstärkt. Mit seinem eigenen Körper wärmt man sie auf, in wenigen Minuten steigt die Temperatur, na sagen wir mal, um einen halben Grad.

Ich erinnere mich noch, dass Obdachlose solche Telefonzellen im Winter gerne als Quartiere nutzten. Vor meinem Haus bewohnte einer eine Zeitlang so ein Ein-Mann-Appartement. Der Geruch des billigen Rotweines war nicht mehr hinauszubekommen, aber gestört hat das niemanden. Man stelle sich vor: Früher lagen in den Zellen sogar noch Telefonbücher aus!

Das Schicksal der Telefonzelle am Alexanderplatz rührt mich zutiefst. Denn sie ist ständig Angriffen von Unbekannten ausgesetzt. Irgendwer schlägt in regelmäßigen Abständen des Nachts ihre Scheiben ein. Es ist immer das gleiche Bild, das sich mir einmal in der Woche bietet: Die Scherben liegen auf dem Fahrradweg vor der Zelle verstreut. Dann dauert es zwei oder drei Tage, bis Mitarbeiter der Stadtreinigung den Weg säubern, und kurze Zeit später werden die Glasscheiben der Zelle erneuert.

Das nützt aber nichts. Denn die Unbekannten lassen sich nicht aufhalten und schlagen aufs Neue zu. Wieder die Scherben, wieder der gleiche traurige Anblick. Und das am Alexanderplatz, der momentan selbst wie zertrümmert und zerbombt aussieht: hier die Großbaustelle, wo das Einkaufscenter »Alexa« gebaut wird, in einem Tag und Nacht währenden Kriegszustand, dort das Kaufhaus auf dem Platz selbst, das seit einem Jahr renoviert wird. Auch das ehemalige »Haus des Lehrers« ist entkernt und gleicht einer Ruine, davor verbreitet der schäbige Weihnachtsmarkt seine grauenhaften Klänge und Gerüche.

Vielleicht ist es der desolate Zustand dieser Ecke Berlins, der irgendjemanden veranlasst, meiner Lieblingstelefonzelle immer wieder Gewalt anzutun. Vielleicht sind nachts rund um den Alexanderplatz junge Leute unterwegs, die voller Zerstörungswut gegen eine Umwelt revoltieren, die nicht mehr zu ertragen ist.

Oder handelt es sich um eine Untergrundbewegung, die gegen die Telekom kämpft? In den neunziger Jahren gab es eine klandestine Vereinigung, die es sich zur Aufgabe machte, die Umstellung auf Kartentelefone zu sabotieren. Ihre Aktivisten verklebten die Kartenschlitze mit Sekundenkleber. Warum aber zerstören sie jetzt nicht lieber diese unmenschlichen Marterpfähle?

Möglicherweise steckt auch ein Fanatiker dahinter, der etwas gegen Radfahrer hat. Wie oft habe ich meine Reifen wegen der Scherben vor der Telefonzelle schon platt gefahren!

Und dann wieder, ein andermal, stelle ich mir vor, der Übeltäter sei ein enttäuschter Liebhaber, der in dieser Zelle zum letzten Mal mit seiner Geliebten telefonierte. Wer weiß, vielleicht sagte sie ihm in einem Telefonat, das er von hier aus führte, »Adieu!«, und er kommt einfach nicht darüber hinweg. Jedes Mal, wenn er an dem Ort seines ganz persönlichen Unglücks vorbeikommt, kann er nicht anders. Das Schicksal dieser Telefonzelle, es rührt mich zutiefst.

stefan wirner