Erkennt ­Gefühle!

Der letzte linke Student XXXVIII

Der letzte linke Student zittert. Dabei: ist dem letzten linken Studenten gar nicht kalt. Nein: er zittert: denn er spürt plötzlich einen Mangel. Und zwar: er spürt den Mangel an Pathos. Das spürt er: ganz tief drinnen in sich. Er spürt es aber auch: überall draußen an sich. Denn: »Wenn wir heute das Wort Pathos hören oder benutzen, dann hören oder benutzen wir es durchweg in einem pejorativen Sinne: Wir sprechen dann vom ›falschen Pathos‹ und meinen, dass dem hohen Ton kein adäquater Gehalt entspricht. Falsches Pathos heißt daher ›hohles Pathos‹.« Diese Worte hat der letzte linke Student eben gelesen. Sie sind von einem Professoren. Und sogar: von einem, der zudem ein kluger Kopf ist. Und nicht etwa: dumm. Dumm: wie die Professoren, die Biologie oder Sport lehren. Zudem: sagt dieser kluge Professor noch viel mehr. Nämlich: »Man könnte diese Entwertung für das Resultat eines gesunden Ernüchterungsprozesses halten, gäbe es da nicht einen entscheidenden Einwand: Wenn denn Pathos ursprünglich einen bedeutenden Gedanken inszeniert, dann impliziert die Verdächtigung des Pathos konsequenterweise die Absage an solch bedeutende Gedanken, Ideen, Gefühle oder gar die Absage an ihre aktuelle Möglichkeit überhaupt.«

Darum erzittert es innen in dem letzten linken Studenten, und draußen an sich erzittert er darum auch. Ja: Schauder ereilen ihn. Und: die Schauder wandern seinen Rücken hinab. Denn: wenn die bedeutenden Gedanken fehlen und die Gefühle und die Ideen: dann ist es aus mit der Revolution. Weil: die Revolution vertritt eine bedeutende Idee. Und: ist ein bedeutender Gedanke. Und daher: gibt sie uns ein gutes Gefühl. Wenn jetzt aber das Bedeutende verschwindet, dann verschwindet bald auch die Revolution. Das aber: heißt, dass die Menschheit ins Mittelalter verfallen wird. Und: dass die Geschichte aufhört. Das aber heißt vor allem: die vielen linken Jahre haben sich gar nicht gelohnt.

Der letzte linke Student ist jetzt arg erschüttert. Besorgt schaut er zur Roten Fahne hin. Die Rote Fahne: die noch in jeder seiner Wohnungen gehangen hat. Die Rote Fahne: die daran erinnert, dass die Revolution bald kommt. Der letzte linke Student seufzt. Denn: er will die Fahne nicht umsonst aufgehängt haben. Er will vielmehr: dass seine Fahne bald auf den Barrikaden weht. Er will: mit Revolutionärinnen hinter den Barrikaden liegen. Und auf die Reaktionäre schießen. Der letzte linke Student will Lust. Und: er will Abenteuer. Daher will er: die Revolution.

Darum: braucht der letzte linke Student eine Lösung. Anderenfalls: sind der letzte linke Student und die Menschheit verloren. Also schreibt er: »Wir sollten ruhig mal ergriffen sein von unseren Gedanken. Wir sollten das Bedeutende an unseren Gefühlen erkennen. Wir sollten begeistert zu d. stehen, für d. wir kämpfen. Wir müssen eine Bewegung werden und ein Gefühl. Wir müssen eine Faust werden aus Lust und Leidenschaft, eine Faust, d. d. Ausbeuter zerhaut! Wir müssen d. Pathos wiederentdecken. Alles andere wäre nur Verzweiflung und Esoterik.« So schreibt der letzte linke Student. Das ist sehr aufrührerisch. Und: bedeutend ist es auch. Der letzte linke Student ist stolz. Gern wäre er ein bisschen tot, um zu sehen, wie sein Nachlass gedruckt aussieht. Und auch wir wollen ja alle mal wissen, was denn eigentlich danach kommt.

jörg sundermeier