Vorwärts, und schnell vergessen

Ariel Sharon ist es gelungen, eine Reihe führender Mitglieder des Likud für seine neue Partei zu gewinnen. Er gilt als Favorit für die Wahlen im kommenden Jahr. von michael borgstede, tel aviv

Dass Politiker für einen ordentlichen Karrieresprung schon mal die Überzeugungen wechseln, ist nichts Neues. Aber selten geschieht derlei so offen, so unverhohlen und ganz ohne schlechtes Gewissen wie am Sonntag in Israel.

Noch zwei Tage vorher hatte Verteidigungsminister Shaul Mofaz bei einer Wahlkampftour auf einem Markt in Tel Aviv seine Verbundenheit zur Likud-Partei beschworen, um deren Vorsitz er sich bewarb. Es sei verfrüht, den Likud abzuschreiben, sagte Mofaz. Vorausgesetzt natürlich, er werde zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. »Ich habe Pläne für die Rehabilitierung der Partei«, verkündete er vollmundig. Er habe bereits der »härtesten Prüfung« standgehalten. »Sharon bot mir den Posten des Verteidigungsministers an und wollte mich zur Nummer zwei in Kadima machen. Ich habe abgelehnt, denn man verlässt seine politische Heimat nicht einfach so.«

Starke Worte, doch das war gestern. Einen Tag später machte eine Umfrage deutlich, dass Mofaz keine Chance hatte, die Wahl zum Parteivorsitzenden zu gewinnen. Und während sein innerpartei­licher Konkurrent Silvan Shalom noch um die Unterstützung des Verteidigungsministers warb, hatte der seiner »politischen Heimat« bereits den Rücken gekehrt und sich Ariel Sharons Partei Kadima (Vor­wärts) zugewandt. Der Likud sei zu einer »extrem rechten Partei« geworden, erklärte Mofaz seinen plötzlichen Meinungswandel. Außerdem habe Sharon ihm für die nächste Legislaturperiode das Verteidigungsministerium versprochen.

Lieber heimatlos im Ministersessel als arbeitslos zu Hause herumsitzen, wird er sich wohl gedacht haben. Es war ein weiterer Schock in einer Reihe schwerer Rückschläge für die bisherige Regierungspartei. Nur eine Woche zuvor war der amtierende Parteichef des Likud und Vorsitzende des Zentralkomitees der Partei, Zachi Hanegbi, überraschend in Sharons Kadima gewechselt. Hanegbi, der als der ultimative Likudnik gilt und sich innerhalb der Partei großer Beliebtheit erfreute, soll Kadima die Stimmen vom rechten Rand bringen. Es sei wichtig, dass eine zentristische Partei wie Kadima auch einen hochrangigen Gegner des Gaza-Rückzuges in ihren Reihen wisse, soll Sharon seinen skeptischen Beratern erklärt haben.

Das ist kein unmittelbar einleuchtendes Argument, hat Sharon doch den Likud verlassen, um sich nicht mehr mit den Blockaden und Verzögerungsmanövern der Rebellen in seiner Partei auseinandersetzen zu müssen. Ohnehin stimmt die Personalzusammenstellung der neuen Partei nachdenklich. Sind die Ansichten des Arbeitspolitikers Chaim Ramon mit denen des alten Likudniks Shaul Mofaz vereinbar? Können der Friedensnobelpreisträger Shimon Peres und Zachi Hanegbi wirklich für dieselbe Sache einstehen?

Yoram Marziano, ein ehemaliger Berater Peres’, glaubt, dass Sharon seinen Chef betrogen hat: »Sharon sollte sich schämen. Er hat Peres angeboten, einer Zentrumspartei beizutreten, und nun wird mit jedem Tag deutlicher, dass Shimon sich im selben Boot mit klaren Rechtspolitikern und den korruptesten Politikern des Landes befindet.« Das wiederum war eine deutliche Anspielung auf Hanegbi, der Kadima ausgerechnet an jenem Tag beitrat, an dem der Generalstaatsanwalt entschied, gegen den ehemaligen Umweltminister Anklage wegen Korrup­tion zu erheben.

Justizministerin Zipi Livni riet deshalb davon ab, Hanegbi in die neue Partei aufzunehmen, doch davon wollte Sharon nichts wissen. Hanegbi sei ein Freund, sagte der Mann, der seinen Untergebenen sonst immer so eindringlich deutlich macht, dass Politik nichts mit persönlicher Zuneigung zu tun habe. Nicht alle glauben Sharon diese plötzliche emotionale Verbundenheit. Der Mann, der 1973 den Likud mitbegründet hat, scheint nun dessen systematische Zerstörung geradewegs zu genießen. Es macht Sharon offensichtlich Spaß, die israelische Parteienlandschaft durchzurütteln und so immer mehr Mandate für seine neue Kadima-Partei zu sammeln.

Was dabei auf der Strecke bleibt, ist ein klares Parteiprogramm. Weitere »ein­seitige Aktionen« wie den Gaza-Rückzug solle es nach seiner Wiederwahl nicht geben, hat Sharon angekündigt. Das Parteiprogramm bezieht sich vage auf die »Road Map«. Das aber kann alles heißen, vom kompromisslosen Beharren auf einer Entwaffnung der palästinensischen Terrororganisationen bis zu vertrauensfördernden Gesten und der sofortigen Aufnahme von Verhandlungen.

Die Bevölkerung scheint das schwammige Konzept der neuen Partei nicht abzuschrecken. Jüngsten Umfragen zufolge könnte Kadima mit 39 Mandaten rechnen, während die Arbeitspartei bei 23 und ein von Netanyahu geführter Likud bei nur 13 Sitzen lägen. Der Grund dafür ist einfach: 70 Prozent der Israelis halten Sharon in Sicherheitsfragen für den kompetentesten Kandidaten, nur elf Prozent vertrauen dem neuen Vorsitzenden der Arbeitspartei, Amir Peretz, mehr.

Bei der Kompetenz in der Sozialpolitik sieht es anders aus. Hier trauen 42 Prozent Peretz mehr zu als Sharon. Kein Wunder also, dass der Vorsitzende der mächtigen Gewerkschaft Histadrut sich im Wahlkampf auf die zunehmende Armut und Arbeitslosigkeit konzentrieren will. Diese Taktik steigerte zunächst seine Popularität, bis in der vergangenen Woche in Netanja ein Selbstmordatten­täter fünf Menschen mit in den Tod riss und so das Hauptaugenmerk der Israelis wieder auf die Sicherheitspolitik lenkte. Um sich zu profilieren, berief Peretz zwar in aller Eile ein »Sicherheitskomitee« ein und forderte ungewohnt scharf einen »kompromisslosen Kampf gegen den Terrorismus«. Doch das wird ihm kaum helfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die palästinensischen Terroristen der israelischen Rechten im Wahlkampf zu Hilfe kommen.

Auch wenn die Umfragewerte zu diesem Zeitpunkt wohl kaum das endgültige Ergebnis vorwegnehmen, so geben sie doch einen ziemlich eindeutigen Trend wieder. Sharon wird mit Kadima wohl zur stärksten Partei in der Knesset werden, zum Regieren wird er aber einen Koalitionspartner brauchen. 120 Abgeordnete sitzen in der Knesset, über 61 Stimmen muss eine handlungsfähige Regierung verfügen.

Vieles ist denkbar: Ein mögliches Bündnis von Kadima und Arbeitspartei erfreut sich bei vielen israelischen Kommentatoren großer Beliebtheit. Eine solche Koalition könnte die Besatzung des Westjordanlandes beenden, sich in der Wirtschaftspolitik auf einen wachstumsfördernden Kompromiss zwischen neo­liberalen und altsozialistischen Ansätzen einigen und die Vorherrschaft des orthodoxen Rabbinats beenden, schreibt die Tageszeitung Jediot Achronoth.

Doch auch eine Koalition von Kadima und Likud, falls nötig mit den Stimmen der orthodoxen Parteien, ist nicht undenkbar, obwohl es schwer fällt, sich Sharon und seinen Erzfeind Benyamin Netanyahu noch einmal am selben Kabinettstisch vorzustellen. Eines jedenfalls steht fest: Es müsste schon ein Wunder geschehen, damit der nächste israelische Ministerpräsident nicht wieder Ariel Sharon heißt.