Ab in die Mitte

Sharon hat Fakten geschaffen, die die weitere Entwicklung der israelischen Politik bestimmen werden. von jörn schulz

Ben Gurion sagte zu mir: ›Lassen Sie mich Ihnen zuerst eines sagen: Es spielt keine Rolle, was die Welt über Israel sagt (…) Wichtig ist allein, dass wir hier auf dem Land unserer Vorväter leben können. Und wenn wir den Arabern nicht zeigen, dass sie einen hohen Preis für die Ermordung von Juden zahlen, werden wir nicht überleben.‹« So schilderte Ariel Sharon seine erste Begegnung mit dem damaligen Ministerpräsidenten im Jahr 1953. Dessen Aussage kann auch als Sharons Motto gelten. Die von ihm kommandierte Einheit 101 hatte kurz zuvor bei einer Vergeltungsaktion 69 palästinensische Dorfbewohner getötet.

Obwohl niemand Sharons militärische Fähigkeiten in Frage stellte, war er beim Oberkommando nicht beliebt. Mehrmals handelte er gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten, und der Degradierung oder dem Kriegsgericht entging er wohl nur, weil seine eigenmächtigen Aktionen erfolgreich waren. Auch als Minister hielt er nicht viel von der Kabinettsdisziplin. Dass die israelische Armee im Libanonkrieg 1982 viel weiter vordrang als eigentlich vorgesehen, war eine Initiative des damaligen Verteidigungsministers Sharon. Er hat zumindest geduldet, dass rechtsextreme christliche Milizen mehr als 1 000 palästinensische Flüchtlinge in Sabra und Shatila massakrierten.

Vor allem der Massenmord in Sabra und Shatila hat Sharon den Ruf eines »Schlächters« eingetragen, eine häufig antisemitisch motivierte und fast immer verlogene Dämonisierung, die die Rolle der libanesischen Täter mit einem Schulterzucken übergeht. Zweifellos aber ist Sharon ein Militarist, der den Schutz Israels vor allem als eine Frage der Sicherheitspolitik sieht. Er ist jedoch auch in der Lage, jenseits der etablierten Bahnen zu denken und zu handeln.

Diese Kombination hat es ihm ermöglicht, im Konflikt mit den Palästinensern einen neuen Weg zu gehen und zudem noch das israelische Parteiensystem neu zu ordnen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich Sharon von seinem Schlaganfall wieder so weit erholt, dass er sein Amt weiterführen kann. Doch seine Politik hat Fakten geschaffen, die auch ohne seine persönliche Mitwirkung die weitere Entwicklung bestimmen werden.

Sharon selbst hat zur Pflege seines Images als »Bull­dozer« einiges beigetragen. Seine Autobiographie trägt den schlichten Titel »Krieger«, und in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Ha’aretz gab er sich im April 2001, kurz nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident, betont starr­sinnig. »Ich war immer so, wie ich bin«, sagte er. »Es gibt keinen neuen Sharon.«

Einen Rückzug aus den palästinensischen Gebieten schloss Sharon damals aus, selbst isolierte Siedlungen im Gaza-Streifen wie Netzarim werde er »um keinen Preis« aufgeben. Drei Jahre lang hat er den israelisch-palästinensischen Kon­flikt dann verwaltet, ohne sich durch Friedensinitiativen hervorzutun. Im Sommer 2004 kündigte er jedoch den Rückzug aus dem Gaza-Streifen an, den er im folgenden Jahr gegen den Widerstand der Siedlerbewegung und eines großen Teils der israelischen Rechten durchsetzte. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Sharons Ankündigung, den Palästinensern nur 42 Prozent oder »vielleicht ein bisschen mehr« der Westbank abzutreten, sein letztes Wort gewesen wäre.

Sharon gilt als Pate der Siedlerbewegung. Die nationalreligiöse Ideologie machte er sich jedoch nie zu eigen, obwohl er wohl gern an ein von Gott versprochenes Großisrael geglaubt hätte. »Als Sadat mir sagte, dass für die Araber das Land heilig ist, machte mich das neidisch. Und ich bin manchmal neidisch auf die Art, wie die Palästinenser sich einsetzen, ohne zu zweifeln«, bekannte er. Es war Sharon, der 1978 überraschend die Entscheidung des damaligen Ministerpräsidenten Menachem Begin unterstützte, im Rahmen des israelisch-ägyptischen Friedensvertrages Siedlungen auf der Sinai-Halbinsel zu räumen.

In den vergangenen Jahren wurde immer deutlicher, dass die Siedlungen in den palästinensischen Gebieten Israel nicht sicherer machten. Die Siedlungspolitik, die ursprünglich auch von der Arbeits­partei mitgetragen wurde, wurde in einer Zeit kon­zipiert, als die Israelis mit weiteren Kriegen rechneten. Kfar Darom »hielt die ägyptische Armee 1948 für einige kritische Tage lang auf«, begründete Sharon noch 2001 die strategische Bedeutung der Siedlung im Gaza-Streifen. Zur Abwehr einer Invasionsarmee oder eines bewaffneten palästinensischen Aufstandes konnten die Siedlungen nützlich sein, doch vor Terroranschlägen müssen sie selbst aufwändig von der Armee geschützt werden.

Die Siedlungspolitik war zu einer enormen militärischen und finanziellen Belastung geworden, und als kluger Militarist erkann­te Sharon, dass die Zeit für einen geordneten Rückzug aus einer unhaltbar gewordenen Stellung gekommen war. Seine Lösung war einfach: einseitiger Abzug, statt noch einmal mit einem Palästinenserpräsidenten zu verhandeln, der seine Milizen entweder nicht kontrollieren kann oder ein doppeltes Spiel treibt, und ohne darauf zu warten, dass die Islamisten wie so oft zuvor ihre Selbstmord­attentäter losschicken, sobald eine Aussicht auf Frieden erkennbar wird.

Nicht zu Unrecht sagen Kritiker Sharons, dass die Übergabe des verelendeten und unruhigen Gaza-Streifens etwa so großzügig ist, als würde man jemandem Fallujah zum Geschenk machen, und dass Israel sich viele militärische Kontrollrechte vorbehält. Andererseits aber hat kein israelischer Regierungschef den Palästinensern ein so bedeutendes territoriales Zugeständnis gemacht wie Sharon, der zudem mit der Gründung der Kadima (Vorwärts), einer neuen Partei der Mitte, deutlich gemacht hat, dass er seine Politik fortsetzen will. Die Partei, die letztlich eine Sammlungsbewegung um Sharon war, der ehemalige Mitglieder des Likud ebenso wie der Arbeits­partei angehören, hat den ersten Umfragen zufolge nicht so viel Unterstützung verloren wie erwartet.

Es gibt derzeit wenig Anlass für die Israelis, größeres Vertrauen zu einer friedlichen Entwicklung in den palästinensischen Gebieten zu fassen. Die Hamas hat die Reichweite ihrer Raketen erhöht und sogleich nach dem Ablauf des informellen Waffenstillstands am 1. Januar mit dem Beschuss israelischen Territoriums begonnen. Die Fatah hat zwar die offene politische Spaltung vorerst verhindert und wird nun doch mit einer gemeinsamen Liste bei den für den 25. Januar geplanten Wahlen antreten, doch im Gaza-Streifen kommt es ständig zu bewaffneten Protesten von Milizionären der Partei.

Doch der von Sharon herbeigeführte Bruch mit der nationalreligiösen Siedlerbewegung hat zur Isolation der Likud-Partei geführt, deren neue Führung weitere territoriale Zugeständnisse kategorisch ablehnt. Wenn sich das derzeitige politische Kräfteverhältnis bis zu den Wahlen im März nicht grundlegend ändert, könnten die Arbeitspartei und die Kadima eine Regierung bilden, wahrscheinlich wäre allerdings noch eine weitere Koalitionspartei nötig. Denn auch viele Israelis, die nicht mit der Arbeitspartei sympathisieren, stimmen deren neuem Vorsitzenden, Amir Peretz, zu, der die Besatzung »als einen der Hauptgründe für den Anstieg der Gewalt in der israelischen Gesellschaft, für den moralischen Verfall und die Korruption« sieht und sie »im nationalen Interesse« beenden will.