Das Erbsenmeer

Was soll man essen? Kochtrends verderben uns den Appetit. von elke wittich

Das Kartoffelpüree ein Sandstrand, die benachbarten Erbsen das Meer, dessen Wellen die Küste bedrohen, und das Stück Fleisch ein hilflos den Elementen ausgesetztes Schiff – ein bisschen kindliche Phantasie vorausgesetzt, kann ein Mittagessen ewig dauern. Denn vor einem Teller mit Essen zu sitzen, das man derart verabscheut, dass alleine die Vorstellung, die ekligen Erbsen oder der fiese Spargel könnten die Mundschleimhaut berühren, für Brechreiz sorgt, ist eine ausgewiesene Qual.

Dies der versammelten Familie kund­zutun, hat meist gar keinen Zweck, denn die reagiert häufig mit Unverständnis. Erwachsen zu werden, beinhaltet deshalb auch, dass man irgendwann nur noch das essen kann, worauf man gerade Lust hat. Und Erbsen für immer vom Speiseplan zu verbannen.

Ein bisschen später, ungefähr mit Beginn der Pubertät, ist es dann auch schon so weit: Je ungesünder, kalorienreicher, nährstoffloser der in einem Imbiss angebotene Fraß ist, desto größer ist seine Chance, innerhalb der nächsten Viertelstunde von einem jahrelang mit Gemüse, Ballaststoffen und Vitaminen gequälten Teenie voller Begeisterung verschlungen zu werden.

Und so folgt selbst gekaufter Hamburger auf selbst gekaufte Fritten mit extra Mayo, bis man irgendwann eine eigene Wohnung mit eigenem Herd hat und den Fettfraß plötzlich gründlich satt hat. Und dann auf einmal passiert es: Man sitzt im Frühling mit Freunden in irgendeinem Gartenrestaurant, und die freuen sich halb­tot, als sie auf der Speisekarte den ersten Spargel der Saison entdecken.

Spargel ist jedoch, das weiß man noch aus dieser fürchterlichen Kinderzeit, für den Verzehr definitiv nicht geeignet. Aber sollte man nicht doch noch einmal einen Versuch machen?

Unbedingt, denn sonst könnte es sein, dass man ein neues Lieblingsgericht verpasst. Wobei das mit den Lieblingsgerichten so eine Sache ist, jedenfalls mit denen, nach denen man sich halbtot sehnt, weil sie so nur Mama hinbekommen hat.

Richtige Hausmannskost für eine Person zu kochen, ist fast unmöglich, so dass Sauerbraten und Co. von Berufstätigen fast nur noch im Restaurant gegessen werden können.

Die schicken Rezepte aus den Frauenzeitschriften, in denen routinemäßig stän­dig neue Trend-Nahrungsmittel vorgestellt werden – beginnend vor einigen Jahren mit Ruccola-Salat, den unter seinem deutschen Namen Rauke bzw. Raukelkohl niemand als trendy Salat zu verkaufen gewagt hätte ­–, sind dem modernen Haushalt vorbehalten. Wo abwechselnd mit großer Begeisterung Grünkern, Chili, Zitronengras und Ziegenkäse verwendet und mit dem nächsten Trend wieder vergessen werden.

Bedauerlicherweise gehören jedoch auch Mütter zur den Leserinnen solcher Magazine, und so kann es sein, dass der lange angekündigte, mit der Bestellung der absoluten Lieblingsgerichte verbundene Besuch zu Hause in einem absoluten Fiasko endet. In die Frikadellen, die man noch nie geschmacklich so hinbekommen hat wie Mama, wurden heimtückisch gemeine Grünkerne geschmuggelt, in der guten alten selbstgemachten Tomatensauce finden sich plötzlich Spuren exo­tischer Gewürze, die da auf keinen Fall hineingehören, und der Fisch, von dem man immer wochenlang geträumt hat, schwimmt plötzlich in einer Weißwein/Butter-Sauce, die zwar im Restaurant mehr als okay ist, am verkratzten Küchentisch jedoch nichts, aber auch gar nichts zu suchen hat.

Zu allem Überfluss hat Mama zudem auch noch überhaupt kein Unrechts­bewusstsein. Seit zig Jahren koche sie nun tagein, tagaus dieselben Gerichte, rechnet sie unbarmherzig vor, und nun sei sie es einfach leid und wolle mit der Zeit gehen, und so alt sei sie ja nun schließlich auch noch nicht, dass sie nicht noch einmal rezeptetechnisch ganz von vorne anfangen könne, und überhaupt habe man jahrelang über die immergleichen Frikadellen gemeckert.

Der weitere Verlauf dieses Besuchs darf als bekannt vorausgesetzt werden: Nach Tagen voller vorsätzlich abgeänderter Gerichte fährt man enttäuscht nach Hause, im sicheren Gefühl, dass dies der endgültige Abschied von der Kindheit war und niemals wieder alles so sein wird wie zuvor.

Vielleicht hat man aber auch Glück, und die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler behält mit dem Recht, was sie in ihrer Studie »Future Food« zum Ernährungsverhalten vorgestellt hat.

Demnach passt sich der Essenstrend automatisch gesellschaftlichen Gegebenheiten an, wie sie in einem Interview mit dem österreischischen Gastronomie-Magazin ÖGZ erklärte. Mit den Begriffen »Hand-Held-Food« und »Multitasking« umschreibt sie zum Beispiel das, was eine folgerichtige Konsequenz veränderter Arbeitszeiten sei: Wäh­rend früher das Mittagessen ein markanter Fixpunkt des Tages war und die Mittagspause ausdrücklich dazu da war, ein warmes Essen zu verspeisen, sind heute nur noch 60 Prozent der Beschäftigten in einem klassischen 9to5-Job tätig. Gegessen wird häufig direkt aus der Hand am Schreibtisch – ausgedehnte Lunches finden eher als ausgewiesene Arbeitsessen statt.

Die zunehmende Individualisierung führe zudem, so Rützler, dazu, dass das Essen nicht mehr im Familienverband genossen wird und an die Hausfrau de­legiert ist, sondern als »›Schlüsselkom­petenz‹ zum permanent geforderten Selbstentwurf gehört. Nach dem Motto: Du bist, was du isst! Es werden gezielt Esspartner gesucht, junge Leute gehen als Teil des Selbstausdrucks gemeinsam auswärts essen. Das hat natürlich auch mit dem nach wie vor vorhandenen Bedürfnis nach einem kollektiven Esserlebnis zu tun.«

Wobei Kochen durch die zunehmende, auch berufliche Emanzipation schon lange nicht mehr ausschließlich Frauensache sei, wie der Trend »Feminisierung« belege. 50 Prozent der Männer sagten demnach, dass sie ab und zu kochen, »vor 20 Jahren waren das erst 30 Prozent. Die Rollenbilder und Zeitbudgets lösen sich auf. Dadurch verlieren Männer den dominanten Geschmack, den sie durch die Küche der Mutter gehabt haben. Prinzipiell essen Frauen weniger Fleisch, dafür mehr Gemüse und Fisch. Das hat nichts mit gesünderem Essen zu tun, sondern mit einem anderen Geschmack. In höheren sozialen Schichten haben die meisten Männer bereits einen weiblichen Geschmack entwickelt.«

Und die Mütter? Die müssen bald wieder ihre traditionellen Rezepte hervorkramen, denn »Mood-Food« gehört zu den Dingen, die bald eine ganz wichtige Rolle spielen. Essen, das Emotionen weckt, also tröstet, aufmuntert, Erinnerungen weckt, glücklich und gleichzeitig ein biss­chen traurig macht, kann nur von ihnen zubereitet werden. Und wenn man ganz nett ist und um der guten alten Zeiten willen auch die dazugehörigen Erbsen relativ kommentarlos aufisst, verraten die Mütter einem vielleicht sogar alle ihre Rezepte.