In Heterotopia

Postmoderne Träume von Abenteuer und Freibeuterei: Über die Möglichkeiten und Grenzen der so genannten anderen Orte nach Michel Foucault & Co. Von Marvin Chlada

In seinem 1966 erschienen Werk »Die Ordnung der Dinge« setzt Michel Foucault den Utopien, den imaginären »Städten mit weiten Avenuen« und »wohlbepflanzten Gärten« die Heterotopien entgegen. Während die utopische Sprache sich in den Diskurs einschreibt und diesen weiterführt, setzen die Heterotopien dem Diskurs ein Ende, sie »trocknen das Sprechen aus«. Im Gegensatz zu den Utopien, welche die Ordnung der Dinge garantieren und somit eine be­ruhigende Funktion inne haben, stehen die Heterotopien ganz im Zeichen der Unruhe.

In einem Vortrag vor Architekten im März 1967 erweitert Foucault diesen Ansatz zu einer Heterotopologie, zu einer Wissenschaft vom »anderen Ort«, wobei Utopie und Heterotopie sich nunmehr gegenseitig durchdringen bzw. »spiegeln«. Grundsätzlich werden von Foucault zwei »große Typen« des Raumes idealtypisch unterschieden: Zum einen sind da die Utopien, d.h. Platzierungen ohne wirklichen Ort.

Zum anderen gibt es die Heterotopien, die Foucault als »tatsächlich realisierte Utopien« charakterisiert. Bei den Hetero­topien handelt es sich somit um »wirkliche Orte, wirksame Orte«, um »Gegenplatzierungen« und »Widerlager«, in denen die gleichsam wirklichen Plätze und Orte (der Restraum) innerhalb einer Kultur zugleich repräsentiert, bestritten, suspendiert oder umgekehrt werden: »Weil diese Orte ganz andere Orte sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien. Und ich glaube, dass es zwischen den Utopien und den Heteroto­pien eine Art Misch- oder Mittelerfahrung gibt: den Spiegel.« Sofern der Spiegel ein »Ort ohne Ort« ist, bleibt er eine Utopie. Im Spiegel sieht man sich, wo man nicht ist, in einem virtuellen, einem unwirklichen Raum hinter der Glasoberfläche. Sofern der Spiegel aber wirklich existiert und jemanden auf den Platz zurückschickt, den er einnimmt, ist er gleichsam eine Heterotopie.

Als Heterotopie wird in der Medizin die Bildung von Gewebe am falschen Ort bezeichnet. Entsprechend will Foucault die Heterotopie als das Andere in der Gesellschaft verstanden wissen: ein Ort, der in einem besonderen Verhältnis zur Gesamtgesellschaft steht. Gegenstand der Heterotopologie können Orte sein, die von einer Gesellschaft errichtet wurden, um das Anor­male besser kontrollieren und bestenfalls disziplinieren zu können. Es können darüber hinaus Orte sein, die sich allein der Lust, der Schönheit oder dem Widerstand verschrieben haben, Orte, die nur solange »toleriert« werden, wie sie kein »öffentliches Ärgernis« oder gar eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen.

Heterotopien entfalten sich zwischen zwei extremen Polen: der Illusion und der Kompensation. Die Illusionsheterotopien schaffen Plätze, die den Realraum außerhalb der Heterotopie, in den das Leben normalerweise gesperrt ist, als noch illusorischer verwerfen – etwa die berühmten Edelbordelle, »deren man sich nun beraubt findet«. Im Unterschied zu den Illusionsheteroto­pien verwerfen die Kompensationsheterotopien den realen Restraum nicht als illu­sorisch, sondern als ungeordnet, wirr und missraten.

Um diese (Un-)Ordnung zu kompensieren, schaffen sie sich einen wirklichen anderen Raum der Vollkommenheit. Foucault denkt hier an die Kolonien der Puritaner aus dem 17. Jahrhundert und die außerordentlichen Jesuitenkolonien in Paraguay, »vortreffliche, absolut geregelte Kolonien, in denen die menschliche Vollkommenheit tatsächlich erreicht war«. Zwischen den bei­den extremen Polen der Illusion und Kompensation kann sich nunmehr eine Vielzahl von heterogenen Orten entfalten, die Gegenstand der Heterotopologie sein können, etwa das Ehebett oder das Kino, ein orientalischer Teppich, der Friedhof, die Klöster und Bibliotheken, Motels, Burgen, Knäste und Museen, das Genossenschafts- und Wohnmodell »Familistère Godin«, ei­ne Autonome Temporäre Zone à la Hakim Bey, das von Dale Anderson gegründete »Gay and Lesbian Kingdom of the Coral Islands« oder der »Freistaat« Christiania in Kopenhagen.

Foucaults Konzept hat eine Reihe ganz unterschiedlicher Rezeptionen erfahren. Einer der ersten, die das Heterotopiemodell aufgegriffen haben, ist Samuel R. Delany. Im SF-Roman »Triton – An Ambiguous Heterotopia« (1978) entwirft er eine ganze Reihe von (erotischen) Orten, die von Leuten bewohnt werden, die keine festgelegten »Identitäten« kennen. Inzwischen beziehen sich Postmodernisten wie Giani Vattimo und Systemtheoretiker wie Helmut Willke auf das Heterotopiemodell ebenso wie etwa Maria del Mar Castro Varela im Rahmen der Migrantenforschung oder Beatriz Pre­ciado innerhalb der (kontrasexuellen) Gendertheorie.

Um das Andere zu erfahren, beschwört Foucault immer wieder das Motiv der Reise. Sinnbild der Reise, der Erkundungen und Entdeckungen, Hoffnungen und Wünsche ist seit jeher das Schiff: ein »Ort ohne Ort«, der über das Wasser schaukelt, ein in sich geschlossenes Stück Raum auf offenem Meer. Mit Nachdruck betont Foucault, dass für die abendländische Zivilisation das Schiff von der Renaissance bis heute nicht nur ein bedeutendes Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern darüber hinaus auch das »größte Imaginationsar­senal« gewesen ist: »Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin. In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.«

Die von Foucault beschworene Fahrt des Schiffes verleiht dem relativ »statischen« Raummodell ein Moment der Dynamik. Das Beharren auf dem »Imaginationsarsenal« und den »Träumen« macht darüber hinaus deutlich, dass die Heterotopie gegen die Utopie keineswegs ausgespielt, sondern nurmehr in Bezug auf diese gedacht werden kann. Im Folgenden soll daher ein Blick auf die politischen Möglichkeiten und Gren­zen des Heterotopiemodells geworfen werden, das den Anspruch erhebt, eine »Gegenplatzierung« bzw. ein »Widerlager« zu sein.