Verzögern hilft sparen

Österreich war jahrelang darauf bedacht, Reparationszahlungen zu umgehen. Nun wird mit den ersten Vorauszahlungen aus dem Entschädigungsfonds für NS-Opfer begonnen. von jutta sommerbauer, wien

Drei Tage vor Weihnachten war er plötzlich in der Post. Dagmar Ostermann holt den Brief aus einer Lade, zieht das Schreiben aus dem Kuvert. »Sehr geehrte Frau Dagmar Ostermann«, steht da geschrieben, »wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass die Vorauszahlung aus dem Allgemeinen Entschädigungsfonds nun erfolgen kann.« Eine Weihnachtsüberraschung sei das gewesen, erzählt die weißhaarige alte Da­me, als sie sich wieder auf die Couch in ihrer Wiener Wohnung setzt. »Ich habe damit gerechnet, dass man einmal etwas bekommen wird. Aber wann das sein würde, wusste man nicht. Denn es hat sich immer wieder verzögert.«

Dagmar Ostermann ist eine der ersten, die eine Vorauszahlung aus den Mitteln des von der Republik Österreich und österreichischen Unternehmen mit 210 Millionen Dollar ausgestatteten Entschädigungsfonds für die Opfer des Nationalsozialismus erhalten werden. Voraussetzung dafür war, dass sie eine Verzichtserklärung auf alle weiteren Ansprüche abgab und sich damit einverstanden erklärte, einer Zahlung zuzustimmen, über deren Summe noch Unklarheit besteht. Denn erst wenn alle 19 300 Anträge abgearbeitet sind, werden die individuellen Beträge nach einem Verteilungsschlüssel berechnet. Wann der Rest kommt und wie viel das sein wird, steht noch nicht fest.

»Sie haben nun die Menschen vorgezogen, die so lange gewartet haben und alt sind und es doch noch erlebt haben«, sagt Ostermann. »Es« ist mehr als 60 Jahre her. Vor einem Monat ist Frau Ostermann 85 Jahre alt geworden.

Als die Nationalsozialisten in Wien einmarschie­ren, ist sie 17 Jahre alt. Ihre Mutter war Christin, ihr Vater Jude. Sie gilt nach den Nürnberger Rassegesetzen als »Mischling ersten Grades«. Den ­Besuch einer Wiener Handelsschule kann Ostermann nach dem so genannten Anschluss Österreichs im März 1938 nicht mehr fortsetzen. Im Jahr 1941 wird sie verhaftet, zuerst nach Ravensbrück, dann nach Auschwitz deportiert. Durch Zufall bekommt sie eine Tätigkeit als Schreiberin. Als sie am 2. Mai 1945 von amerikanischen Truppen befreit wird, macht sie sich nach Wien auf. Mit ihrem Ehemann muss sie ganz von vorne beginnen. Zunächst arbeitet sie in einem Bekleidungs­geschäft, in den sech­ziger Jahren wird sie Kioskbesitzerin.

Die Vorauszahlungen an die NS-Opfer werden die ersten Leistungen aus dem im Jahr 2001 eingerichteten österreichischen Entschädigungsfonds sein. Damit sollen die Bereiche abgedeckt werden, die in der bisherigen Gesetzgebung nur unzureichend berücksichtigt wurden, dazu gehört etwa die Entschädigung von arisierten Konten, Versicherungspolicen, Immo­bilien und Mietwohnungen, liquidierten Betrieben, aber auch der Ausgleich von Verlusten, die sich aus dem erzwungenen Ausscheiden aus Beruf und Ausbildung ergaben.

Zur Bedingung für Auszahlungen hatte die österreichischen Bundesregierung, ganz nach dem Vorbild Deutschlands, immer die Herstellung des so genannten Rechtsfriedens gemacht. Diese Bedingung war erst Mitte Dezember vergange­nen Jahres erfüllt, als ein Berufungsgericht in den USA die letzte Sammelklage von NS-Geschädigten gegen österreichische Firmen mit dem Hinweis auf die außenpolitischen Interessen der USA abwies.

Stuart Eizenstat, der ehemalige Vertreter der USA in den Verhandlungen, bescheinigt Österreich mittlerweile in der Internet-Ausgabe des Forward die historische Läuterung. Österreich sei eine »Nation, die sich aus dem Schatten der lange abgestrittenen Nazi-Mitschuld im Zweiten Weltkrieg ins Licht der Akzeptanz der historischen Verantwortung« bewege. Kanzler Wolfgang Schüssel sei ein Politiker, der »seine Kritiker Lügen straft, eine historische Rolle für sein Volk einnimmt und dem ein Schlag im Kampf gegen den Antisemitismus gelingt«.

Auch in Österreich ist man in Feierlaune. Im Jubiläumsjahr 2005 (Jungle World 11/05) hat man es doch noch geschafft, als rechts-konservative Regierung ein Entschädigungspaket durchzusetzen. Als »krönenden Abschluss des Gedankenjahres« bezeichnete Andreas Khol (ÖVP), Präsident des Nationalrats und Vorsitzen­der des Fonds, die Auszahlungen.

Dem offiziellen Österreich kommt der Ausgang des Rechtsstreits mehr als gelegen. Die Republik hat nun endlich die Konstruktion, die sie immer woll­te: Die störenden Klagen sind abgewiesen, und Österreich zahlt »freiwillig« Entschädigungsleistungen an die NS-Opfer. Der Regierung Schüssel kann nun eigent­lich nichts Besseres passieren als der derzeitige EU-Vorsitz, bei dem sie sich inter­national profilieren kann. Schließlich war es die misstrauische EU, die im Jahr 2000 beim Antritt der schwarz-blau­en Koalition den »Rat der drei Weisen« zur halb­herzigen Demokratie-Kontrolle nach Österreich schickte.

War man jahrzehntelang peinlich darauf bedacht, den eigenen Opferstatus zu wahren, um Reparationszahlungen entgehen zu können, so wurden die Entschädigungsgesetze in der Vergangenheit stets von außen angestoßen. Die Po­li­­tologin Brigitte Bailer-Galanda konstatiert, dass die Maßnahmen stets »zögernd« unternommen wurden und von »kleinlichen und teilweise gegen die Opfer gerichteten Argumentationsweisen« begleitet waren.

Auch diese letzte entschädigungspolitische Maßnahme wurde »von außen« angestoßen. Erst im Jahr 1995 wurde der »Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus« eingerichtet. Ursprünglich wollte man es bei einer einmaligen Pauschal­aus­zah­lung bewenden lassen. Im Januar 2001 wurde im »Washingtoner Abkommen« zwischen Österreich, den USA und jüdischen Opfervertretungen die Einrichtung eines Allgemeinen Entschädigungsfonds für Sachwerte beschlossen, die durch die Entschädigungsgesetze bislang nicht abgedeckt wurden. Ohne den Druck der USA und die anhängigen Sammelklagen wäre es wohl nie so weit gekommen.

Als es vor ein paar Jahren die Möglichkeit gab, einen Antrag auf finanzielle Entschädigung zu stellen, zögerte Dagmar Ostermann nicht. »Dafür, dass man eben doch Verschiedenes mitgemacht hat, habe ich das als richtig empfunden«, erklärt sie. Allerdings habe sie das Wort »Wiedergutmachung« schon immer gestört. »Man kann nichts wieder gut machen, eventuell kann man jemanden entschädigen. Das kann man mit verlorenem Geld oder mit Sachwerten machen.« Sie selbst hat in ihrem Antrag den abgebrochenen Schulbesuch und die fehlenden Alimente, die ihr Vater an seine geschiedene Frau hätte zahlen müssen, als Ansprüche angemeldet.

Dass man sich in Österreich über das Ausmaß der Schädigungen anscheinend keine Gedanken gemacht hat, zeigt ein Blick auf die Personalpolitik des Fonds. Die Institution nahm 2001 mit 15 Mitarbeitern ihre Tätigkeit auf – erst in den letzten eineinhalb Jahren hat man großzügig aufgestockt, sodass der Personalstand mittlerweile bei 150 Personen liegt. Trotz dieser Aufstockung ist noch immer unklar, ob bis Ende 2006 der ausstehende Aktenberg abgearbeitet werden kann. Von 19 300 Anträgen sind derzeit erst 2 700 bearbeitet worden.

Wie viele der österreichischen NS-Opfer den Tag noch erleben werden, an dem auch ihnen ein Brief ins Haus flattert, steht also in den Sternen.