Niemand sagt Tiffy

Das Landgericht in Münster befasst sich mit den Vorwürfen, in einer Kaserne in Coesfeld seien Rekruten während der Ausbildung gefoltert worden. von peer heinelt

Es ist Nacht, Bundeswehrrekruten kampieren auf einer Waldlichtung. Plötzlich fallen Schüsse, die Explosion einer Blendschockgranate taucht die Gruppe in gleißendes Licht. Ehe sich die Soldaten versehen, ist auf jeden von ihnen eine Waffe gerichtet. Die Angreifer legen ihren Opfern Handfesseln an und zwingen sie, die Pritsche eines Lastwagens zu besteigen. Dieser bringt die Gefangenen wahlweise zu einer Sandgrube oder einem Kellerverlies. Wer in der Sandgrube landet, wird mit Wasser übergossen, ihm wird in die Hoden getreten und er muss bis zur Erschöpfung einen Baumstamm stemmen. Den in den Keller verschleppten Gefangenen steht noch Schlimmeres bevor: Nachdem ihnen Säcke über die Köpfe gezogen wurden, quälen die Angreifer sie mit Kopfstößen, Elektroschocks, einer an den Kopf gehaltenen Pistole oder einer brennenden Zigarette.

Diese Vorgänge entstammen nicht dem Drehbuch zu einem drittklassigen Actionfilm, sondern sollen sich im Sommer 2004 tatsächlich ereignet haben: Rekruten der Freiherr-von-Stein-Kaserne im westfälischen Coesfeld sollten von ihren Ausbildern darauf vorbereitet werden, eine »Geiselnahme« klaglos zu ertragen und in den Verhören durch die »Geiselnehmer« keine militärischen Geheimnisse zu verraten. Einige der Rekruten waren allerdings von dieser »Simulation« im Nachhinein nicht mehr begeistert; sie erstatteten Anzeige gegen ihre Ausbilder, die in die Rolle der »Geiselnehmer« geschlüpft waren.

Ende Dezember haben die Richter der 8. Großen Strafkammer am Landgericht Münster die Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen neun der Beschuldigten abgelehnt. Unter diesen befand sich auch der damalige Leiter der Coesfelder Ausbildungskompanie, Hauptmann Ingo T. Diesem, so hieß es im Beschluss des Landgerichts, sei lediglich nachzuweisen, dass er die »Übung«, bei der die »Geiseln« in der Sandgrube »verhört« wurden, angeordnet habe; ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten sei nicht zu erkennen. Das »Bespritzen von Rekruten mit Wasser« sei »in einer Sommernacht« erfolgt und von den Betroffenen zumeist »als willkommene Abkühlung« begrüßt worden. »Keiner der Rekruten hat bekundet, aufgrund seiner nassen Kleidung erkrankt zu sein, sich also z. B. erkältet zu haben.«

Auch das erzwungene Hochhalten eines Baumstamms stelle keine Misshandlung dar, da dies vielleicht »ein bisschen anstrengend« gewesen sei, aber »nicht schmerzhaft«. Mit derselben Begründung lehnten die Richter auch die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen acht von Hauptmann T. befehligte Unteroffiziere ab. Mit diesen hätten zwar »Vor- und Nachbesprechungen« über die simulierte Geiselnahme stattgefunden, jedoch seien dabei keine Straftaten verabredet worden.

Der Oberstaatsanwalt Wolfgang Schweer sieht das anders: Seiner Auffassung nach fasste T. in diesen »Besprechungen« zusammen mit seinen Untergebenen einen »Tatplan« zur Misshandlung der Rekruten. Da schon das Bespritzen mit Wasser und das erzwungene Stemmen eines Baumstamms schwere Verstöße gegen die Menschenwürde darstellten, bei denen eine »gemeinschaftliche Begehungsweise« anzunehmen sei, müsse T. und seinen Mannen gar kein »individueller Tatbeitrag« mehr nachgewiesen werden, sagte Schweer der Jungle World. Er will gegen den Beschluss des Landgerichts Beschwerde einreichen.

Zur Anklage kommen sollen nach dem Willen der Münsteraner Richter lediglich die Methoden neun weiterer Ausbilder, die im Sommer 2004 unter dem Kommando von Hauptmann T. standen. Bei insgesamt vier simulierten Geiselnahmen setzten sie Zeugenaussagen zufolge ein breites Spektrum von Folterpraktiken ein, was von den Richtern allerdings nur bedingt geglaubt wird. Während ihnen Tritte, Schläge und das Verabreichen von Stromstößen als hinreichend nachgewiesen erscheinen, sind sie in den Fällen, in denen Rekruten eine Pistole an die Schläfe gesetzt oder eine Zigarette auf dem Hals ausgedrückt worden sein soll, skeptisch. Die Opfer, deren Köpfe in Säcken steckten, hätten ihre Peiniger schließlich »nur an der Stimme erkannt«, heißt es.

Gleichzeitig muss sich die Staatsanwaltschaft den Vorwurf der Schlamperei gefallen lassen. Einer der Beschuldigten gibt an, vor der »Geiselnahme« eine »Einweisung« durch andere Ausbilder erhalten zu haben, jedoch fehlt dem Gericht zufolge jeder Hinweis darauf, dass »darin auch Exzesshandlungen abgesprochen« wurden, zumal »über den Inhalt dieser Einweisung nach den bisherigen Ermittlungen nichts bekannt geworden« sei.

Aber den Justizbehörden kann geholfen werden. Das »Zentrum Innere Führung« der Bundeswehr hat bereits vor einigen Jahren die Richtlinien festgelegt, nach denen deutsche Soldaten auf kriegerische Einsätze im Ausland vorbereitet werden sollen, und zwar in den Arbeitspapieren mit den Titeln »Umgang mit Verwundung und Tod im Einsatz« und »Geiselhaft und Gefangenschaft«. Ein Ziel der »einsatznahen Ausbildung« sei es, den Kämpfern beizubringen, wie sie ihre Angst davor »beherrschen«, zu töten, zu verletzen oder selbst getötet oder verletzt zu werden. Das »Zentrum Innere Führung« empfiehlt hierfür psychischen »Drill« und fordert die Ausbilder auf, die Soldaten »bis an die Grenze der körperlichen, geistigen und seelischen Belastbarkeit zu beanspruchen«.

Genau dies soll auch das Training des Verhaltens im Falle von »Geiselhaft und Gefangenschaft« leisten. Den Auszubildenden wird vermittelt, dass es »keinen Freibrief« dafür gebe, »schon bei der leisesten Andeutung von Folter sein Wissen oder sich selbst preiszugeben«. Vielmehr solle der Soldat »auf die schnelle Regenerationsfähigkeit des eigenen Körpers vertrauen«. Während deutsche Behörden offenbar im Ausland durch Folter erpresste Aussagen im Rahmen ihrer nachrichtendienstlichen Arbeit nutzen, sollen Bundeswehrangehörige durch »Rollenspiele« gegen Folterpraktiken immunisiert werden.

Auf Weisung des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, ist die Verhaltensschulung durch simulierte Geiselnahmen mittlerweile fester Bestandteil der »Allgemeinen Grundausbildung«. Da die Bundeswehr immer mehr zur »Armee im Einsatz« werde, wolle man auch bei der Ausbildung keine »Zeit verschenken«, meint der Journalist Rolf Clement, ein Mitglied des Beirats Innere Führung beim Verteidigungsministerium. Schließlich sei es notwendig, die Soldaten frühzeitig »auf ihre Aufgaben« vorzubereiten«.

Stellt sich nur noch die Frage, warum kaum einem der in Coesfeld misshandelten Rekruten das Codewort »Tiffy« über die Lippen kam, was für ihn das sofortige Ende der »Übung« zur Folge gehabt hätte. Staatsanwalt Schweer meint, insbesondere die Offiziersanwärter seien wohl in Sorge wegen eines »negativen Eintrags in die Personalakte« gewesen.