Grün ist das Milieu

Die Grünen sind wieder das, was sie anfangs einmal waren: die kleinste Oppositionspartei im Bundestag. Wie sie das ändern wollen, beschreibt richard gebhardt

Im Bundestagswahlkampf 2005 machte der grüne Kandidat für den Berliner Wahlkreis 84 mit einem Plakat auf sich aufmerksam, das besonders originell wirken sollte. Gerhard Seyfried, der altgediente Karikaturist des Alternativmilieus, widmete seinem alten Freund Hans-Christian Ströbele ein farbenfrohes Multikulti- und Pace-Panorama, das mit einem pseudowitzigem Sprüchlein Erststimmen einbringen sollte: »Prenzl-Kreuzberg-Friedrichshain / wählen sich den Christian rein.«

Das von Kiezbewohnern, Kids, Kiffern, Kötern und sonstigen liebenswerten Chaoten bevölkerte Bild, in dessen Zentrum Ströbele auf dem Oma-Fahrrad seine Bio-Milch transportiert, wirkte wie eine augenzwinkernde Reminiszenz an längst vergangene Zeiten. Der ergraute Grüne mit dem roten Schal wurde zum Repräsentanten eines idealen großstädtischen Soziotops stilisiert, in dem die Welt so sein soll, wie es bereits vor 25 Jahren auf den Wahlplakaten der Partei gefordert wurde: ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei.

Inzwischen ist der Spott über die »Postmaterialisten«, die diverse Besitzstände zu verteidigen haben (was sie den Gewerkschaften gerne vorwerfen) und mehr Weinsorten als soziale Projekte kennen, Allgemeingut geworden. Dabei wird leicht übersehen, dass gelegentlich auf grünen Parteiveranstaltungen etwas vom alten rebellischen Geist aufflackert. Im Jahr 1996 etwa erhielt der ehemalige Frankfurter Stadtverordnete Micha Brumlik auf einem Kongress in Hannover viel Beifall für seine Forderung, man solle statt modisch über »Kommunitarismus« endlich auch wieder über »Kommunismus« reden. Und nachdem die Grünen im vergangenen Jahr wieder als kleinste Oppositionspartei auf den Bundestagsbänken Platz genommen hatten, applaudierten die Delegierten des Oldenburger Parteitags im Oktober ihrem Parteigewissen Ströbele für eine engagierte Rede gegen Krieg und soziale Kälte.

Auch wenn der Kreuzberger Direktkandidat auf die reale Politik der Partei einen ähnlichen Einfluss hat wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auf die FDP Guido Westerwelles, sind für das Milieu, das in den westdeutschen Universitätsstädten beständig die Grünen wählt, symbolische Akte von großer Bedeutung. Denn der Preis für die Beteiligung an der Bundesregierung war hoch. Antidiskriminierungsbüros und Abschiebeknäste führten in dieser Zeit eine friedliche Koexistenz. Viele der über 45 000 Parteimitglieder buchten dies als Konzession an die Wirklichkeit ab. Das nach wie vor gültige, von keiner Ahnung von der konkreten Mitwirkung am Sozialabbau und an Kriegseinsätzen getrübte Selbstbild wurde im Bundestagswahlkampf von Claudia Roth und Jürgen Trittin angesprochen: Die Grünen präsentierten sich als »moderne Linke« – so viel Distinktion von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi musste sein!

In der Opposition hat die Partei nun nur wenig Zeit, über ihre Rolle zwischen der Linkspartei und der FDP nachzudenken. In Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin finden im März und September Landtagswahlen statt, in Hessen und Niedersachsen werden die kommunalen Parlamente gewählt. Die Themen, mit denen die Grünen die Wahlkämpfe bestreiten wollen, muten eher defensiv an, etwa wenn sie Unterschriften gegen die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken sammeln. Die geplante Besteuerung von Biokraftstoff lehnt man selbstverständlich ab, das Gentechnikgesetz dürfe nicht verwässert werden, für die Rechte von Frauen wolle man kämpfen. Man setzt sich für die »Fortsetzung des Islam-Dialogs« ein, wie es Claudia Roth formuliert, und kritisiert den Gesprächsleitfaden, mit dem Einbürgerungswillige in Baden-Württemberg getestet werden sollen.

Das dürfte die eigene Klientel ansprechen, aber ob es hinreicht, neue Wähler zu gewinnen? In der Opposition verteidigt die Partei ihre Errungenschaften aus der Regierungszeit, neue Ideen sind bislang nicht entwickelt worden. Auch ein für den Sommer geplanter »Zukunftskongress« der Grünen dürfte kaum mit überwältigenden neuen Gedanken aufwarten. Zudem ist mit Joschka Fischer der Anführer des Alternativmilieus abhanden gekommen. Er strahlt als elder statesman schon heute mehr Altersweisheit aus, als Helmut Schmidt je erlangen wird.

Das etwas desolate Bild, das die Grünen seit der Bundestagswahl abgeben, fand Ende Januar seinen vorläufigen amüsanten Höhepunkt in einer Aussage der ehemaligen Landwirtschaftsministerin Renate Künast. Auf die Nachfrage der Linkspartei, ob sie für oder gegen einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Tätigkeit des BND im Irak sei, antwortete die grüne Fraktionsvorsitzende schlicht: »Die Frage war mir zu unterkomplex.«

»Unterkomplex« ist aber auch die Frage, ob der Verlust des Dienstwagenprivilegs die Grünen unter der Führung von »wertkonservativen Pragmatikern« wie Kathrin Göring-Eckart oder Matthias Berninger direkt in eine schwarz-grüne Koalition führt. Was auf unterer Ebene funktioniert, hat auf Bundes- und Länderebene seine Grenzen. Das Denken eines großen Teils der CDU/CSU ist noch lange nicht vereinbar mit dem Wertediskurs des grünen Bürgertums. Die schwarz-grüne Option existiert derzeit vor allem in Denkschriften, nicht aber in der politischen Realität.

Und dennoch sind schwarz-grüne Koalitionen für die flexiblen »Alternativen« nicht ausgeschlossen. Schließlich ist grüne Opposition im Bundestag nichts anderes als eine Fortsetzung der Sondierungsgespräche mit anderen Mitteln und eine Regierungsabstinenz auf Zeit.

»Weg vom Öl!« bleibt auch im Jahr 2006 eine zentrale Losung der Grünen, die durch das vergangene Katastrophenjahr an Aktualität gewonnen hat. Mit diesem Slogan knüpft die Partei an die Tradition der Ökologiebewegung an. Doch die »neuen sozialen Bewegungen«, die die Grünen einst ins Parlament brachten, existieren nicht mehr. Die Wortführer der marginalisierten Initiativen, die gegenwärtig oppositionelle Arbeit leisten, haben nach kurzen Höhepunkten öffentlicher Aufmerksamkeit in der Linkspartei einen Partner gefunden. Und das Netzwerk Attac, dem sich zahlreiche grüne Orts- und Kreisverbände angeschlossen haben, ist vor allem ein Medienphänomen und selten eine bedeutende Kraft im politischen Alltag. So stehen die Grünen konturlos zwischen der Linkspartei, die die »Alternativen« in der Zuständigkeit für Globalisierungskritiker, Öko- und Friedensgruppen beerben will, und der FDP.

Verlassen können sich die Grünen wohl aber auch in der Zukunft auf ihre stabile Klientel konsumfreudiger Citoyens, die »ihre« Leute wählen wie der bayerische Katholik die CSU. Noch ist dieser Wählerstamm gegen die verbreitete Krisenstimmung relativ resistent. Und für die prekär Beschäftigten unter den Anhängern der Partei scheint nicht die eigene sozioökonomische Lage, sondern der gemeinsame Wertekanon entscheidend. Die reale Politik der Grünen verschwindet hinter idealen Panoramabildern, gewählt wird ein grünes Gefühl. Was dem einen das biedere ländliche Idyll, ist dem anderen die verklärte Kreuzberger Kiezromantik.