Hungern, ritzen, brennen

Von wegen: Sport ist gesund. Ein norwegischer Psychiater macht auf die zunehmende Selbstzerstörung unter Spitzensportlern aufmerksam. von kim bönte

Anorexie, Bulimie, Doping – Sportler, die es zu Höchstleistungen drängt, leben lange nicht so gesund, wie es die ihnen bequem vom Sofa aus zusehende Öffentlichkeit gern hätte. Der norwegische Psychiater Finn Skårderud, der unter anderem im Auftrag des Olympischen Komitees seines Landes mit Topathleten zusammenarbeitet und ihnen Hilfe bei Problemen anbietet, beobachtet seit Jahren in seiner Praxis, dass Sportler, wie er sagt, immer bewusster Gesundheitsrisiken eingehen, um Erfolg zu haben.

Skårderud hat bereits im Jahr 1998 gemeinsam mit Kollegen das Sachbuch »Der Preis des Leistungssports« herausgegeben. Die dort vorgestellten Fälle schockierten die Öffentlichkeit, die beharrlich nicht nur an sauberen Sport, sondern auch an gesunde Psychen in gesunden Körpern glaubt. Und die es vor allem nicht wahr haben möchte, dass Medikamentenmissbrauch, die Einnahme von Dopingmitteln und Essstörungen nicht etwa, wie es häufig anhand von Einzelfällen von den Medien suggeriert wird, körperliche Wracks aus den Sportlern machen, sondern im Gegenteil zu Titelgewinn und Medaillen führen.

Die von Finn Skårderud genannten Beispiele waren sehr drastisch. So berichtete er vom gezielten Medikamentenmissbrauch einer Athletin in einer Sportart, die er bewusst nicht nennen wollte, um die Identifizierung der Frau nicht zu ermöglichen. Die Sportlerin nahm seinen Angaben zufolge pro Woche 600 Abführtabletten, mit dem Ziel, ihr Gewicht möglichst niedrig zu halten. Mit Erfolg: Die Frau wurde norwegische Meisterin.

Nun veröffentlichte der Psychiater neue Erkenntnisse aus seiner alltäglichen Arbeit mit Spitzensportlern. Demnach sind nicht nur Essstörungen wie Anorexie nach wie vor weit und vor allem mittlerweile auch unter Männern verbreitet, viele Athleten zeigen auch andere deutliche Zeichen von Selbstzerstörung und eine hohe Bereitschaft, sich selber Schmerzen zuzufügen. Als Beispiel nannte Skårderud das Aufschlitzen der Arme mit scharfen Gegenständen und das Zufügen von Brandwunden. In den letzten Jahren habe er eine Häufung solcher Handlungen bei Spitzensportlern konstatiert, was auch daran liege, dass »viele Menschen, die eine Anlage zu Essstörungen und/oder psychischen Problemen haben, bewusst in den Leistungssport drängen. An oder über die Schmerzgrenze zu gehen, gehört zu den meisten Sportarten dazu und ist gesellschaftlich akzeptiert, und genau das zieht sie an.« Eine Skilangläuferin habe sich zum Beispiel mit Hilfe von Wäscheklammern an Schmerzen zu gewöhnen versucht, mehrere Dutzend habe sie deswegen regelmäßig an ihrem Körper, inklusive Brustwarzen und Klitoris, befestigt.

Die Reaktionen auf seine in der Tageszeitung Dagbladet veröffentlichten Fallbeispiele fielen höchst unterschiedlich aus. Jarle Aambø, Chef des norwegischen Sportverbandes, kommentierte die jüngsten Erkenntnisse von Skårderud mit den Worten, Selbstverletzungen von Sportlern seien leider nicht ungewöhnlich. »Sie sind ein Aspekt des Leistungssports, der wiederum ein Teil der Gesellschaft ist und als solcher eben auch deren Entwicklung widerspiegelt. Als Verband dürfen wir uns dem nicht verschließen, sondern sollten möglichst offen mit allen auftretenden Problemen umgehen. Aus diesem Grund beschäftigen wir Fachleute aus den unterschiedlichsten Bereichen.«

Obwohl das norwegische Olympische Komitee aus Geldmangel »bedeutende Einsparungen« habe vornehmen müssen, »gibt es einen Bereich, für den wir die Mittel sogar erhöht haben«, und das sei »aus gutem Grund« der, in dem es um die psychologische und mentale Unterstützung der Sportler geht und um die Begleiterscheinungen des Spitzensports.

Dass der Zeitungsartikel nun ausgerechnet so kurz vor den Winterspielen erschien und die Öffentlichkeit im Moment eher über sich selbst verletzende Sportler als über Medaillenchancen spricht, findet Aambø »sehr okay«. Und das, obwohl er zusätzlichen Ärger im Moment absolut nicht gebrauchen kann, denn die Funktionäre erhalten schon seit Tagen Morddrohungen militanter Tierschützer, weil die Kapuzen der Olympia-Anoraks der norwegischen Sportler mit Pelz gefüttert sind.

Aambø freut sich im Gegenteil über die weiteren Negativschlagzeilen, denn, so erklärte er in einem Interview: »Es ist gut, wenn das Publikum anlässlich solcher Großereignisse immer wieder daran erinnert wird, unter welchem immensen Druck die Spitzensportler stehen.« Zumal der Druck durch die Erwartungen eben dieses Publikums verschärft werde.

Skårderud habe hoffentlich eine Diskussion über den Preis von Höchstleistungen angestoßen, finden auch ehemalige Sportler, wobei seine Erkenntnisse derzeit von einer ehemals ehemaligen Sportlerin ganz besonders interessiert aufgenommen werden. Siri Halle bereitet sich derzeit in Davos auf ihr Comeback im Ski-Langlauf vor. Zwölf Jahre hat sie an keinem einzigen Rennen mehr teilgenommen, ihren Rückzug aus dem Spitzensport begründete sie in ihrem 1999 erschienenen Buch »Gefangen in der Spur«. Sie habe nicht nur ihre Jugend auf der Loipe vergeudet, schrieb sie damals, sondern sei auch als Mädchen vom Trainer und von Funktionären sexuell belästigt worden. Zusätzlich sei sie einem regelrechten »Slankepress«, also einem Druck, immer mehr abzunehmen, ausgesetzt gewesen, der in ihrem Fall schließlich zu massiven Essstörungen geführt habe. Halle sah schließlich keinen anderen Ausweg mehr als das Karriereende.

Nun, als erwachsene Frau, hält sie sich für reif und gefestigt genug, um mit den Anforderungen von Trainern, Öffentlichkeit und sich selber zurechtzukommen, und wundert sich keine Sekunde lang über die von Finn Skårderud bei ihren Sportkollegen festgestellten Tendenzen zur Selbstzerstörung. »Das überrascht mich nicht, ich bin ganz sicher, dass dies traurige Realität ist«, sagte sie in einem Interview dem Dagbladet. »Viele Spitzensportler gehen unglaublich weit, um das zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben – und manche gehen eben zu weit und würden alles tun, um ganz nach vorne zu kommen.« Dies wirke sich auch ganz sicher schlecht auf die Psyche aus, so dass auch Selbstbestrafungen nicht selten seien. »Der Drang, immer besser zu werden, kann schließlich so stark sein, dass er alles andere überlagert.«