Lass die Tonne stehen!

Länger arbeiten? Von wegen! Seit Montag wird im Öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg gestreikt. von martin kröger

Der Horror eines jeden Spießbürgers wird Wirklichkeit. Die Müllabfuhr hat ihren Dienst eingestellt, Schneeräumdienste lassen ihre Fahrzeuge im Depot stehen. Die Türen von Kindertagesstätten sind genauso verschlossen wie die von Ämtern. In den Krankenhäusern wird nur ein notwendiges Mindestmaß an Versorgung aufrechterhalten.

Über 94 Prozent der Mitglieder von Verdi haben sich in der vergangenen Woche in Baden-Württemberg für den Streik in den Kommunen ausgesprochen, es handelt sich um den ersten großen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst seit 14 Jahren. In dieser Woche folgen die Urabstimmungen in Niedersachsen und Hamburg. Auch dort wird eine überwältigende Mehrheit für den Streik erwartet. In Niedersachsen gingen bereits in der vergangenen Woche über 20 000 Beschäftige an einem Ak­tions­tag auf die Straße, um ihren Unmut über die Aufkündigung des Tarifvertrags für den Öffentlichen Dienst durch die kommunalen Arbeitgeberverbände Ausdruck zu verleihen.

Wie in Niedersachsen haben auch in Hamburg und Baden-Württemberg die kommunalen Arbeitgeber, also die Städte und Gemeinden, den erst im vergangenen Herbst unterschriebenen Tarifvertrag gekündigt, um Arbeitszeitverlängerungen bis 42 Stunden in der Woche durchzusetzen. Im Tarifvertrag sind solche Verlängerungen ausgeschlossen, die tarifliche Arbeitszeit ist auf 38,5 Stunden begrenzt.

»Die Arbeitgeber haben den Vertrag gerade unterschrieben und dann schon wieder aufgekündigt«, erzählt Ari Häcker, der als Krankenpfleger im Südwesten der Republik arbeitet und Mitglied von Verdi ist. Er empfindet wie viele andere Kollegen den Angriff der Arbeitgeber als eine »große Provokation« und »Unverschämtheit«. Das Argument, dass den Arbeitern lediglich aufgebürdet werde, »am Tag 18 Minuten länger zu arbeiten«, kann er nicht nachvollziehen. Nach all den Jahren der »Nullrunden« und Einsparungen sei das Maß voll, sagt er. »Es geht nicht um 18 Minuten, sondern darum, dass die Forderung der Unternehmer einer Lohnsenkung gleichkommen und dass so Arbeitsplätze abgebaut werden sollen.«

Der Unmut in den Belegschaften ist allerdings auch deswegen groß, weil viele der Ansicht sind, dass die Gewerkschaften bei den Verhandlungen im vorigen Jahr bereits zu große Zugeständnisse gemacht hätten. Neben der Einführung leistungsbezogener Löhne und Meistbegünstigungsklauseln monieren einige, dass die kommunalen Arbeitgeberverbände den bereits unterzeichneten Vertrag nur kündigen konnten, weil die Führung von Verdi eine Auflösungsklausel in den Tarifvertrag hineingeschrieben habe. Zudem sei der Vertrag verabschiedet worden, ohne dass die Basis über den Verlauf und das Ergebnis der Verhandlungen vollständig informiert worden sei.

»Wir haben diesen Vertrag im letzten Herbst nur unterschrieben, weil wir davon ausgegangen sind, die Grundlage des erzielten Kompromisses sei, dass die Arbeitszeit nicht angetastet wird«, sagt der Pressesprecher beim Verdi-Bundesvorstand, Harald Reutter, der Jungle World. Die Kritik an der Gewerkschaftsführung will er nicht gelten lassen: »Es wohnt dem Tarifgeschäft inne, dass die Ergebnisse dem einen gefallen und dem anderen nicht.«

Außerdem habe es damals in der Tarifkommission, wo die Ergebnisse zur Abstimmung gestanden hätten, eine große Mehrheit für den Vertrag gegeben. Die Arbeitszeitkonten seien Zugeständnisse an die Arbeitgeber in den Verhandlungen gewesen, die diese schon lange gefordert hätten. Die Gewerkschaft sehe das als ihren Beitrag zur »Zukunftsfähigkeit des Öffentlichen Dienstes« an, sagt Reutter. Dass die Arbeitgeber den Vertrag trotz­dem kündigten, sei nun der Grund für den unbefristeten Ausstand.

Mit dem Streik verfolgt Verdi aber auch ein zweites Ziel: Der Streik in den Kommunen soll dafür genutzt werden, um auf Länderebene die so genannte Tarifgemeinschaft deutscher Länder zu bewegen, den mit den Kommunen ausgehandelten Tarifvertrag zu übernehmen. Bereits seit dem Jahr 2003 mussten die Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Länder Verschlechterungen hinnehmen. Das Weihnachtsgeld wurde gestrichen, und Arbeitszeitverlängerungen wurden per Gesetz verordnet. Diese Entwicklungen will die Gewerkschaft mit dem Streik wieder rückgängig machen. Inzwischen sind allerdings bereits zwei Länder aus der Tarifgemeinschaft ausgestiegen: Berlin und Hessen.

Gerade aus den unionsgeführten Ländern kämen diese Verschlechterungen für die Beschäftigten, erläutert Reutter. »Es hat sich eine von Roland Koch und Edmund Stoiber angeführte politisch motivierte Phalanx herausgebildet, die für die Arbeitszeitverlängerung kämpft.« Deswegen hätten nun auch die kommunalen Unternehmer den Tarifvertrag auf Druck der Länderregierungen gekündigt. Neue Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten und kommunalen Arbeitgebern sind vorerst nicht geplant. Das nächste Gespräch zwischen den Tarifparteien soll erst in drei Wochen stattfinden. Bis dahin soll gestreikt werden.

Dass das Mittel des unbefristeten Arbeitskampfes überhaupt genutzt wird, begrüßt das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Verdi. »In dieser Sache dürfen wir auch nicht nachgeben und uns auf keinerlei faule Kompromisse einlassen. Die Arbeitszeit muss für alle Altersschichten die gleiche sein, und zwar nicht über 38,5 Stunden die Woche«, schreibt der Zusammenschluss von kritischen Gewerkschaftern. Alexander Brandner, ein Mitglied des Sprecherrates des Netzwerks, sagt: »Die Leute wollen was machen, sie vertrauen nicht mehr bloß auf die Verhandlungen.« Bereits unter der rot-grünen Bundesregierung hätten sie zu viele Kürzungen erleiden müssen. Das Netzwerk hoffe, dass die Gewerkschaft standhaft bleibe und die Arbeitszeitverlängerung abwehre.

»Aber was sind eigentlich unsere Forderungen?« fragt sich Brandner selbstkritisch. »Hätten wir nicht mindestens eine 37-Stunden-Woche für alle fordern müssen, also auch für den Osten, wo länger gearbeitet wird, um in den kommenden Verhandlungen überhaupt etwas rauszuschlagen?« Denn die Beschäftigten hätten bereits jetzt dank des Tarifvertrags weniger Geld im Portemonnaie. Gut sei jedoch, dass die Aktionen vielleicht dazu beitrügen, dass sich wieder mehr Leute aus der Resignation reißen ließen und sich in der Gewerkschaftsarbeit engagierten.

So entstand schließlich auch das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Verdi. Einer der Anlässe für seine Gründung war der Streik im öffentlichen Dienst im Jahr 1992, als die Führung der Gewerkschaft in den Verhandlungen einer Lohnerhöhung von fünf Prozent zustimmte, die Mehrheit der Beschäftigten jedoch an der ursprünglichen Forderung von neun Prozent festhalten wollte. Die Gewerkschaftsführung unter Monika Wulf-Matthies setzte sich damals einfach über das ablehnende Votum der Beschäftigten hinweg und unterschrieb den Vertrag trotzdem. Wenig später wechselte sie auf einen gut dotierten Posten nach Brüssel.