Ausweitung der Kampfzone

Dynamik und Konfrontation von carlos kunze

Es ist das Kennzeichen einer aufrührerischen Dynamik, dass sie innerhalb von 24 Stunden die spektakulären Pseudoanalysen vom Vortag der Lächerlichkeit preisgibt. Eine solche Dynamik ist derzeit in Frankreich zu beobachten. Innerhalb der vergangenen zehn Tage wurden folgende Einschätzungen durch die Revoltierenden widerlegt: dass es sich um eine Studentenbewegung handelt – durch die Teilnahme der Schüler; dass es sich um eine Bewegung jugendlicher Privilegierter handelt – durch die Straßenkämpfe sowie die Streiks und Blockaden an den Schulen und Universitäten in den Banlieues; dass es sich um eine Jugendbewegung und einen Generationenkonflikt handelt – durch die großen Demons­trationen am Samstag unter Beteiligung von Lohnabhängigen allen Alters und die Drohung der Gewerkschaften mit einem Generalstreik, sollte die Regierung den Ersteinstellungsvertrag (CPE) nicht ersatzlos streichen.

Diese Dynamik, die die Regierung, die Opposition, die Gewerkschaften ebenso überrascht hat wie die Intelligenzija, kommt nicht von ungefähr. Die neuen Produktivkräfte, die durch die Digitalisierung den gesamten Produktionsbereich, aber auch die staatliche Bürokratie umkrempeln, und die ökonomische Krise haben unerfreuliche Folgen für die Arbeitskraft: Ein großer Teil wird überflüssig fürs Kapital, und eine generelle Unsicherheit macht sich breit.

Das Neue an der gegenwärtigen Bewegung gegen den CPE ist zunächst, dass sich auch Schüler und Studenten als »prekarisierte« Arbeitskraft erkennen und sich dagegen wehren. Benennt sich die studentische Streikkoordination in »Nationale Koordination der Studierenden, jungen Arbeitenden, Kulturprekären und prekär Beschäftigten« um, ist das ein deutliches Signal. Es handelt sich um einen Interessenkampf, der sich generalisiert – neue Kampfformen kommen hinzu, neue Beteiligte, und die Kritik weitet sich aus. Schon tauchen hie und da Flugblätter auf, in denen es heißt: »Wir haben nichts zu verteidigen, nichts zu retten, alles zu zerstören.« Denn: »Wir wollen etwas anderes aufbauen … eine Gesellschaft, in der das Geld, die Lohnarbeit, der Wert, der Staat abgeschafft wären.«

Bereits mit der Räumung der Sorbonne hat die Regierung klar gemacht, dass sie im Zentrum von Paris auf keinen Fall einen Treffpunkt für offene Diskussionen dulden wird. Die spektakuläre Demokratie befürchtet zu Recht, dass sich dort ein unkontrollierbarer Anziehungspunkt für die städtischen Unzufriedenen bilden könnte.

Es ist nicht zu sehen, wie Dominique de Ville­pin, der einen Rückzug in der Frage des CPE am Wochenende ausgeschlossen hat, und die Regierung sich unbeschadet aus der Affäre ziehen könnten. Denn das Interesse der Opposition ist es, die Regierung ein Jahr vor den Neuwahlen vorzuführen, und das Interesse der Gewerkschaften, bei Jugendlichen neue Reputation zu erlangen und Mitglieder zu gewinnen. Dazu dient ihnen die Drohung mit einem Generalstreik.

Abgesehen davon, dass die Ernsthaftigkeit dieser Drohung noch nicht zu ermessen ist, liegt das Problem in der ausschließlichen Verknüpfung des Generalstreiks mit dem CPE. Könnte die Regierung dazu gezwungen werden, den CPE zu streichen, wäre dies das erste Mal seit Jahren, dass sie nachgeben müsste. Doch in dem Moment, in dem allerorten von einer ernsthaften gesellschaftlichen Krise in Frankreich die Rede ist, kann diese Verknüpfung auch dazu dienen, die sich radikalisierende Bewegung einzuhegen und auf die Kritik des CPE zu beschränken.