Die offene Erinnerung

Die argentinische Militärdiktatur wird 30 Jahre nach dem Putsch fast einhellig verdammt. Das eröffnet aber auch die Möglichkeit, herrschaftskritische Diskurse staatlich zu vereinnahmen. von jessica zeller

Es war symbolisch gemeint. Vor dem 30. Jahrestag des Militärputsches in Argentinien regte Präsident Nestór Kirchner an, den 24. März künftig zum nationalen Feiertag zu erklären. Einige Senatoren und Angehörige von Menschenrechtsorganisationen grummeln noch. Den einen ist unwohl bei dem Gedanken, den Putsch von 1976 auf eine Stufe mit dem Unabhängigkeitstag zu stellen, die anderen befürchten, dass das Gedenken nun mit einer Fahrt ins Grüne endet. Aber so richtig scheint keiner mehr zu bezweifeln, dass der Staatschef mit dem besonderen Händchen für Erinnerungspolitik sein Vorhaben in die Tat umsetzen wird.

Für das Jubiläum plant die Menschenrechtsbewegung ein Konzert mit namhaften argentinischen Künstlern im Stadion »Ferro Carril Oeste«, eine Kundgebung auf der Plaza de Mayo mit vielen Gästen und zwei Großleinwänden, auf denen die Diktatur in Fotos und Filmmaterial dokumentiert wird, sowie Kundgebungen im ganzen Land. Der Staat bereitet unter dem Motto »Das Jahr der Ablehnung des Putsches 1976« unzählige Veranstaltungen, Gedenkstunden, eine Sondermünze und ein aufklärendes Buch vor, das kostenlos an alle Lehrerinnen und Lehrer im Land verteilt werden soll.

In Argentinien ist die Erinnerung an die Militärdiktatur ein tagespolitisches Thema. Wie man es mit dem Gedenken hält, ist entscheidend für die politische und gesellschaftliche Legitimation. Acht Jahre der Repression und des Terrors, 30 000 »Verschwundene«, Mütter, die vor dem Regierungsgebäude ihre Runden ziehen, die gewonnene Fußballweltmeisterschaft und der verlorene Falkland- bzw. Malvinen-Krieg werden zu einem großen Ganzen.

Der gemeinsame Nenner aller Gegner der Diktatur lautet: »Nunca Más« (Nie wieder). So heißt auch der Bericht der Wahrheitskommission Conadep aus dem Jahr 1984. Der wird jetzt auch wieder neu aufgelegt. Dass das Gedenken nicht auf das eigene Land beschränkt ist, beweist unter anderem die internationale Tagung »30 Jahre Militärputsch in Argentinien 1976–2006«. Eingeladen hatten die Koalition gegen Straflosigkeit, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälte-Verein, das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika und die Berliner Rechtsanwaltskammer bereits am 10. März ins Berliner Abgeordnetenhaus mit illustren deutschen und argentinischen Persönlichkeiten.

Es wäre tatsächlich zynisch, der nationalen und internationalen Erinnerung an die Militärdiktatur in Argentinien mit dem Argument zu begegnen, dass heute ja wirklich fast alle verurteilen, was damals passiert ist. Vom deutschen Auswärtigen Amt angefangen, das sich damals um das »Verschwinden« von deutschen Staatsbürgern auf argentinischem Boden wenig oder gar nicht kümmerte, über einige reuige Militärs bis zur konservativen katholischen Kirche Argentiniens.

Lange und unter vielen Opfern hat die argentinische Menschenrechtsbewegung für die öffentliche Anerkennung ihrer Interessen bei Staat und Gesellschaft kämpfen müssen. Zu Beginn ihrer Proteste 1977 waren die Madres de la Plaza de Mayo »ein paar verrückte Mütter«, und vor nicht allzu langer Zeit galten Amnestiegesetze, die jegliche Strafverfolgung der Täter in Argentinien verhinderten. Der dreißigste Jahrestag des Putschs ist aber auch eine Gelegenheit, um die Möglichkeiten staatlicher Vereinnahmung einst herrschaftskritischer Diskurse und die Folgen der damaligen Ereignisse für die Gegenwart herauszuarbeiten.

Denn die argentinische Militärdiktatur ist in einem gewissen Sinn auch eine Erfolgsgeschichte. Als am Morgen des 24. März 1976 die Militärs unter Führung des Generals Jorge Rafael Videla die Regierung von Präsidentin Isabel Perón stürzten und die Streitkräfte mit Unterstützung liberaler Wirtschaftskräfte die Macht übernahmen, war schnell klar, worum es im »Prozess der Nationalen Reorganisation« ging: Die als »krank« betrachtete argentinische Gesellschaft sollte wieder zu konservativen Idealen bekehrt werden, um so wieder »Ordnung inmitten von politischem Chaos« herzustellen. Gemeint war damit die Tötung aller Kritiker und politischen Gegner, am konsequentesten auf den Punkt gebracht von Brigadegeneral Ibérico Saint Jean wenige Tage nach dem Putsch: »Erst werden wir die Subversiven töten, dann die Sympathisanten, danach die Gleichgültigen und zum Schluss die Unsicheren.«

Der »Proceso« bedeutete aber nicht nur die politische, sondern auch die soziale und ökonomische Entrechtung der Bevölkerung. Wo vorher ein peripherer Wohlfahrtsstaat herrschte, wurden nun die Löhne gesenkt und Unternehmensschulden vom Staat übernommen. Die meisten Verschwundenen waren aktive Gewerkschafter.

Anders als in Chile blieb die wirtschafts­liberale Politik widersprüchlich und erwies sich als erfolglos, sie schuf jedoch die Grundlage für den sozialen Kahlschlag der neunziger Jahre. Und dass 23 Jahre nach dem Ende der Diktatur in Argentinien praktisch alle den »Neoliberalismus« und die Auslandsschulden verdammen, aber keiner wirklich weiß, wie ein alternatives Wirtschaftssystem aussehen könnte, in dem nicht 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, ist auch ein ideologisches Verdienst der Diktatur.

So wichtig die konsequente juristische Verfolgung der Diktaturschergen im In- und Ausland sowie die Herausarbeitung eines historischen Bewusstseins sind, etwa in einer beeindruckenden mehrteiligen CD-Rom mit Zeugenaussagen und Material zur Diktatur, kürzlich herausgegeben von verschiedenen Menschenrechtsgruppen unter dem Dach der Organisation »Memoria Abierta« (Offene Erinnerung), damit allein ist es nicht getan. Zum einen sind diese Maßnahmen immer unzureichend. So haben anderthalb Jahre nachdem die Amnestiegesetze für verfassungswidrig erklärt wurden, die ersten Strafprozesse in Argentinien gerade begonnen, und was in dem geplanten Museum im ehemaligen Folterzentrum Esma ausgestellt werden soll, ist nach wie vor völlig unklar. Zum anderen ist jedoch gerade ein offizieller Gedenktag auch eine Chance, die Widersprüche in der staatlichen und der gesellschaftlichen Erinnerungspolitik deutlich zu machen. Dabei geht es weniger darum, die Brutalität der Diktatur rituell zu verdammen und die »Helden« des Widerstands zu würdigen, als darum, die Kontinuitäten des liberalen Wirtschaftsmodells bis in die heutige Zeit herauszuarbeiten und zu fragen, wie ihnen zu begegnen ist. Dafür braucht es allerdings mehr als einen Feiertag.