»Es herrscht eine prekäre Vollbeschäftigung«

Ein Gespräch mit marcel lombre, einem Aktivisten der Koordination der Intermittents und Prekären aus Paris
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In ganz Frankreich protestieren Studenten und Schüler gegen den von der Regierung geplanten Ersteinstellungsvertrag (CPE). Dieser soll es Unternehmen ermöglichen, Arbeitnehmern unter 26 Jahren jederzeit ohne die Angabe von Gründen zu kündigen. An der Bewegung beteiligt ist auch die »Koordination der Intermittents und Prekären – Île de France«. Sie gründete sich im Sommer 2003 aus Protest gegen die Abschaffung von Sonderregelungen für prekär Beschäftigte im Kulturbereich (Jungle World, 7 und 8/06). Noch immer führt sie Besetzungs- und andere Aktionen durch, unter anderem ruft sie zur Teilnahme am Euromayday auf. Weitere Informationen gibt es auf ihrer Webpage www.cip-idf.org, wo auch ihr Organ Interluttants gelesen werden kann. Die Jungle World sprach mit einem Aktivisten der Koordination, dessen Name auf eigenen Wunsch geändert wurde.

Welche Bedeutung hat der CPE, also die Aufhebung des Kündigungsschutzes für junge Lohnabhängige?

Das ist nur eine von zahlreichen Maßnahmen, mit denen Prekarität normalisiert und der Abbau von sozialen Grundrechten fortgesetzt werden soll. Heute hat eine halbe Million Menschen unter 25 Jahren weder ein regelmäßiges minimales Einkommen, noch beziehen diese Menschen Arbeitslosengeld. Das versetzt sie in eine extrem prekäre Situation, in der sie alles akzeptieren, was ihnen vorgehalten wird. Das Ziel dieser Politik ist es, Angst bei den Arbeitnehmern zu verbreiten.

Eine Ihrer Parolen lautet »Weder CPE noch CDI!« Unter »CDI« versteht man einen unbefristeten Vertrag. Was ist dagegen einzuwenden?

Wir befinden uns in einer Situation der prekären Vollbeschäftigung und nicht der Massenarbeitslosigkeit. Es gibt keine klare Grenze zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit. Es gibt sehr viele Arbeitslose, die auch nebenbei arbeiten. Deshalb müssen rechtliche Normen gefunden werden, die auch die unregelmäßige Beschäftigung umfassen. In Kultur, aber auch im Dienstleistungssektor und in der Industrie sind bereits 70 Prozent der Stellen mit befristeten Verträgen ausgestattet.

Dieser befristete Vertrag ist zwar schon selbst ein Ausdruck der prekären Arbeit, gewährleistet aber einige soziale Garantien, zum Beispiel ein festes Gehalt bis zum Ende des Vertrags, selbst wenn man gefeuert wird. Wenn man ein halbes Jahr lang gearbeitet hat, bekommt man immerhin für sieben Monate Arbeitslosengeld. Diese Beschäftigungsverhältnisse sind direkt durch den CPE bedroht. Künftig sollen die Betriebe jederzeit einen Arbeitnehmer feuern können, ohne dass er anschließend einen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat.

Welche Kontakte haben Sie zu den Studenten?

Die Studenten sind zu uns gekommen, weil wir uns in der Arbeitspolitik und im Arbeitsrecht auskennen. Im Juni 2003 wurde ein großer Teil der Rechte der Kulturprekären abgeschafft. Seither sind wir organisiert. Wir haben Festivals gesprengt und Fernsehsendungen unterbrochen. Die Studenten fragen uns: Wie soll man sich organisieren? Wie gründet man ein unabhängiges Koordinationsgremium? Wir arbeiten mit den Gewerkschaften und den Parteien zusammen, ohne von ihnen abhängig zu sein. Wir werden in die Universitäten eingeladen, um dort zu sprechen. Es ist eine kollektive Aktion. Es gibt momentan ein kollektives Erwachen.

Was bedeutet das?

In mancher Hinsicht haben wir eine revolutionäre Situation. Die Stimmung ist so, dass alles, was lange Zeit nicht gesagt wurde, was schweigend und passiv erlitten wurde, laut aussprochen wird. Alles wird möglich, weil wir darüber sprechen. Dadurch politisiert sich momentan eine ganze Generation.

Manche vergleichen die Proteste mit dem Aufstand vom Mai 1968.

Was mit dem Mai 1968 verglichen werden kann, ist das Bewusstwerden, diese plötzlich entstandene kollektive Intelligenz, die für die Herrschenden sehr gefährlich ist. Aber in bestimmten Punkten unterscheidet sich die Lage klar vom Mai 1968. Zum einen leben wir nicht mehr in einer opulenten Konsumgesellschaft, und wir fordern materielle Güter, was damals nicht auf der Tagesordnung stand. Zum anderen taucht diese Bewegung zu einem Zeitpunkt auf, an dem die Achtundsechziger in Rente gehen. Wir kämpfen gegen die Gesellschaft, die von ihnen, den Babyboomers, geformt wurde. Die Achtundsechziger sind heute entweder Manager oder in den Ministerien. Die meisten anderen haben resigniert.

Gibt es auch eine europäische Solidarität?

Der Abbau des Sozialstaates und der kollektiven Rechte findet in ganz Europa statt. Und die Europäer sind sich inzwischen dessen bewusst. Italiener, Deutsche und Engländer sind nun auch dabei und nehmen an der Bewegung teil.

Wo steht die Linke in dieser Bewegung?

Die Sozialistische Partei hat die prekär und unregelmäßig Beschäftigten seit 30 Jahren vernachlässigt. Außerdem haben die Sozialisten, insbesondere in den neunziger Jahren unter Premierminister Lionel Jospin, die Prekarität verstärkt. 1968 hat man die Bilanz der Dekolonisation und des Gaullismus gezogen, heute ziehen wir die Bilanz von 20 Jahren sozialistischer Politik.

Was halten die Jugendlichen in den Banlieues vom CPE? Eines der Argumente von Premierminister Dominique de Villepin lautet, die streikenden Studenten seien privilegiert und berücksichtigten nicht die ärmeren Leute, etwa die Bewohner der Banlieues, denen der CPE helfen könne.

Das ist Quatsch. Es lässt sich nicht so einfach eine Grenze zwischen den Studenten und den Jugend­lichen aus den Banlieues ziehen. An den Ausschreitungen in den Banlieues nahmen auch Studenten teil, und umgekehrt studieren in den Universitäten auch viele Jugendliche aus den Ban­lieues. Und die Universitäten, die sich in den Banlieues befinden, sind sehr stark in der Bewegung engagiert.

Wie geht es weiter?

Es kommt darauf an, welche Wirkung die Mobilisierung entfaltet, ob wir es schaffen, andere Orte außer den Universitäten zu blockieren. Immerhin haben wir es geschafft, dass der CPE sehr wahrscheinlich zurückgezogen wird.

interview: anne joly