Tierische Ängste

Wie die Panik vor der Vogelgrippe selbst zum Problem wird. von cord riechelmann

Ein Tierarzt berichtete kürzlich im Radio, dass immer mehr Menschen kern­gesunde Katzen in die Praxen bringen würden, mit der Bitte, das Tier doch einzuschläfern. In anderen Meldungen ist von Leuten die Rede, die zu Hause ihren Wellensittichen den Hals umdrehen oder Bekannte beauftragen, die Vögel zu entsorgen. Viele Tierheime sind mittlerweile überfüllt. Es scheint, dass in Zeiten der so genannten Vogelgrippe nicht mehr viel Verlass auf die Tierliebe ist. Katzen und Wellensittiche, die man längere Zeit im Haus gehalten hat, sind in der Regel individualisiert und gehören quasi zur Familie. Sie haben Namen, man redet mit ihnen, und manchmal hört man ihnen auch zu. Was ist also passiert, dass Menschen angesichts einer virtuellen Bedrohung – die eventuell mit der Mutation des Tiervirus H5N1 zu einem Menschenvirus in Form einer Grippepandemie gefährlich werden kann – Bindungen aufgeben, von denen sie vorher zumindest affektiv profitiert haben?

»Das Trauma bleibt traumatisierend und ­unheilbar, weil es aus der Zukunft auf uns zukommt«, hat der französische Philosoph ­Jacques Derrida vor ein paar Jahren die Angst der westlichen Zivilisationen nach dem 11. September diagnostiziert. Derrida meinte damit zwar nicht nur, aber auch die Furcht vor potenziellen virologischen und bakteriologischen Angriffen auf die Zentren unserer Kultur. Auch das Virtuelle traumatisiere, fügte Derrida hinzu. Das sind bittere Aussichten, denn die avisierte Bedrohung durch einen Tiervirus bleibt so lange virtuell, bis er zum Menschenvirus geworden ist, und dann hat er mit Tieren nichts mehr zu tun. Das zeigt die Geschichte fast aller Seuchen.

Die Erreger von Typhus, Grippe, Pocken, Diphterie, Pest, Tbc und Gelbfieber sind in der die Menschen krank machenden Variante für Tiere in der Regel ungefährlich. Allerdings sind alle erwähnten Mikroben von Haustieren wie Rindern, Schweinen, Hühnern oder Enten auf den Menschen übergesprungen. Die Befürchtung also, dass aus einem Tierkrankheitserreger eine auch für Menschen gefährliche Mikrobe werden kann, ist berechtigt. Nur sind die in den Medien hergestellten Verbindungen – von den ersten Meldungen über die »Vogelgrippe« vor neun Jahren bis zu den heutigen Szenarien über eine Pandemie – alles andere als genau. Anhand sensationsheischender Schlagzeilen lässt sich eine Verschiebung in der Wahrnehmung des Vogelgrippevirus ablesen. Von Zugvögeln war damals weder die Rede noch hatten sie irgendetwas mit der Verbreitung des Virus zu tun. Die ansteckende Variante des Virus H5N1 wurde zuerst unter Hausgeflügel wie Enten und Hühnern entdeckt, die meisten infizierten Menschen haben sich angesteckt, weil sie sehr engen Kontakt zu Geflügel hatten. Eine Infektion von Menschen durch H5N1 blieb aber auch in Asien sehr selten. Wer nicht mit Körperflüssigkeiten, Kot und Blut infizierter Tiere in Kontakt gekommen war, hatte nichts zu befürchten. Und daran hat sich nichts geändert.

Eine Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch wurde noch nie beobachtet. Eine detaillierte Beschreibung der Fälle, in denen Menschen erkrankten, fand nicht statt. Sie hätte sich auch sehr schnell mit den hygienischen und ökonomischen Bedingungen beschäftigen müssen, unter denen tierische Nahrung produziert wird.

Damit ist man sehr nah an den Ursachen der Entstehung der Grippe bei Geflügel. Haushühner sind ein Wirtschaftsfaktor, je mehr man von ihnen hat, desto mehr kann man verkaufen. Die Massenhaltung – große Mengen auf engstem Raum – verspricht immer noch den größten Gewinn. Und es sind schon lange nicht mehr nur die historisch zuerst in Asien domestizierten Haushühner, die in großer Zahl in der Nähe von Menschen gehalten werden. Man züchtet in Massenfarmen Enten, Gänse und Truthähne und hält Geflügel, das sich aus biologischen Gründen nicht zusammenpferchen lässt, wie Fasane, Wachteln oder Perlhühner, in so genannten halbfreien großzügigeren Anlagen. Das ist nicht ohne Risiko. Dass ansteckende Krankheiten sich umso schneller verbreiten, je höher die Kontaktedichte ist, dürfte ein Gemeinplatz sein. Und die Haltungsbedingungen in den boomenden Wirtschaftszonen Asiens sind weniger von Tierschutzbestimmungen reguliert als hierzulande. Das macht die Fleischproduktion dort billiger, steigert den Gewinn und macht im Stadium der Globalisierung die Nahrungsmittelherstellung dort »attraktiv«, wie man bei Sabine Christiansen wohl sagen würde. Dass sich auf den globalisierten Handelswegen auch Mikroben schneller und vor allem nachvollziehbarer verbreiten, als wenn die Viren sich der Zugvögel bedienen müssten, lässt sich an einem Beispiel verfolgen.

Als Ende letzten Jahres die ersten vermeintlichen H5N1-Fälle um Moskau auftauchten, kamen sofort die Krähen ins Gerede. Die Saatkrähen der russischen Ebene sind Zugvögel, sie überwintern auch in Berlin. Es gebe damit also eine direkte Zugvogelverbindung nach Deutschland, hieß es damals. Die kurz danach bekannt gewordenen Fälle von H5N1 fanden sich in der Türkei, das betroffene Geflügel hatte keine Berührung mit den russischen Krähen, und es wurde deshalb stiller um sie. Im Gegensatz zu Geflügel infizieren sich nämlich zum Beispiel Krähen, Störche und Spatzen nur schwer oder gar nicht mit der ansteckenden Variante H5N1.

Und damit ist man zurück im gegenwärtigen Wahrnehmungsirrsinn. Auf Rügen musste es dann schon ein Singschwan – auch aus den russischen Weiten – sein, der das Virus hierhergebracht hatte. Und von dem ist er dann wohl irgendwie auf einen anderen überhaupt nicht mehr identifizierten Vogel gekommen, den die berühmte Rügener Katze mutmaßlich gefressen hat. Oder so ähnlich. Auch das weiß natürlich niemand genau zu sagen.

Schon deshalb nicht, weil Vögel ganz allgemein ein riesiges Reservoir an Influenza-Viren ausgebildet haben. Man hat Viren bei Seeschwalben, Wildenten und Singvögeln gefunden, und man kann davon ausgehen, dass in den noch nicht systematisch untersuchten Vogelarten weitere Varianten der Influenza schlummern. Die meisten von ihnen sind aber für Menschen ungefährlich, zumindest ist es relativ unwahrscheinlich, dass man zum Beispiel Seeschwalben so nah kommt, dass sie einen mit ihren Viren belästigen. Hinzu kommt, dass sich nicht nur die Viren in ihrem Ansteckungspotenzial unterscheiden, sondern auch Tiere unterschiedlich anfällig für sie sind, wie es das Beispiel der Krähen zeigt.

Wenn aber schon die Phänomenologie der Influenza unter der mit über 9 000 Arten äußerst vielfältigen Gruppe der Vögel so unübersichtlich und vor allem unerforscht ist, woher stammen dann die gesamten tagtäglich zu lesenden Gewissheiten über Verbreitungs- und Infektionsketten? Zum Teil zumindest kommen sie aus der Wissenschaft selbst, und zwar aus der molekulargenetischen Abteilung. Das Magazin Focus zitierte kürzlich einen Molekularbiologen, den es als einen der Mitentwickler des Grippemittels Tamiflu vorstellte. Es sei nur eine Frage der Zeit, meinte der Mann, bis H5N1 mutiere, aber dass das Virus mutiere, sei sicher. Das ist eine Meinung, die man insbesondere in den USA fast jeden Tag aus dem Mund eines Molekularbiologen hören kann. Das ist in zweifacher Hinsicht erstaunlich. Denn erstens gibt es bis heute in den USA keinen bekannt gewordenen Fall von H5N1, und zweitens kann ein Biologe, wenn er alles zur Verfügung stehende Wissen über Mutationen ernst nimmt, nicht sagen, wann und ob ein Virus mutieren wird.

Es gehört zum Wesen des Begriffs der Mutation und des damit bezeichneten Vorgangs, dass Mutationen zufällig, richtungslos und in einer statistisch nur ungenau zu erfassenden Häufigkeit erfolgen. Mutationen sind unberechenbar und ziellos. Das macht einen der Kerngedanken der darwinistischen Evolutionstheorie aus und bedeutete die Revolution der evolutionistischen Naturanschauung. Damit wurde jede Teleologie aus der Naturgeschichte genommen. Eine sicher für manche bittere Erkenntnis.

Mit der selbstsicheren Behauptung, das Virus werde mutieren, werden aber genau die teleologischen Vorstellungen, die Darwin einst aus der Naturgeschichte entfernt hat, wieder eingeführt. Die Daten, auf die sich die Voraussage stützt, sind allerdings wenige. Bis heute wurde nicht in einem einzigen Fall der Weg von einem Tiervirus zu einer Menschenmikrobe experimentell nachgezeichnet. Man zieht aus der Ähnlichkeit – dem Verwandtschaftsgrad zum Beispiel des Pockenvirus mit einem bei Tieren auftretenden Virus – den Schluss, dass das eine aus dem anderen hervorgegangen ist. Das ist legitim, aber eine Vermutung ist noch kein Naturgesetz. Auch weiß man bisher nicht, woher das Virus H5N1 kommt, ob es nicht vielleicht schon immer existent war und, ohne großen Schaden anzurichten, in allen möglichen Tieren schlummerte. Das heißt, es lässt sich bisher keine Genealogie des Virus beschreiben. Auf Rügen nicht und anderswo auch nicht.

Was man indes gut beschreiben kann, sind die Folgen des Heraufbeschwörens einer Mutation bzw. einer Pandemie. Es werden genau jene Produktionsbereiche gestärkt, aus denen die düsteren Prognosen stammen. In den USA finden Tamiflu und andere Grippemittel einen reißenden Absatz. Das Geld für For­schungs­ins­titute, die an einem Impfstoff arbeiten, sprudelt. Die Wirtschaftswoche widmet dem Grippemedikament Tamiflu eine Titelgeschichte. Auf der anderen Seite werden jene Produktionsformen, die in der Landwirtschaft entwickelt wurden, um genau jene Geflügel- oder Schweinepestseuchen zu verhindern oder einzudämmen, wieder zurückgedrängt. In Frankreich ließen die ersten H5N1-Meldungen vor allem den Markt für Bresse- und Loue-Hühner, die unter nahezu idealen Bedingungen unter freiem Himmel gehalten werden, einbrechen. Die Welteierproduktion in den Hühnerfarmen Asiens läuft dagegen ohne nennenswerte Einbußen weiter.

Das molekulargenetische Paradigma erzeugt nicht nur das Szenario der Bedrohung und das Versprechen, mit seinen Methoden und Produkten auch die Heilung zu gewährleisten, es verstellt zugleich den Blick auf die Bedingungen der Entstehung von Seuchen. Es ist Seuchenhistorikern immer wieder aufgefallen, dass die großen Epidemien auffällig mit sozialen oder politischen Umwälzungen wie langen Kriegsperioden oder Kolonisationen korrelieren. Eine Tatsache, die weder bei den Voraussagen über eine Pandemie noch bei den Analysen der »spanischen« Grippe von 1918 eine Rolle spielt. Dabei ist es wirklich nicht sehr weit hergeholt festzustellen, das das Jahr 1918 das Ende eines der zerstörerischsten Kriege der Neuzeit markiert. Das Immunsystem nicht nur einzelner Menschen, sondern auch ganzer Gesellschaften muss zu dieser Zeit deutlich geschwächt gewesen sein. Damit kommen dann auch wieder jene Bedingungen in den Blick, die genauso zur Geschichte der Seuche gehören wie die mikroskopischen Krankheitserreger: nämlich die Formationen menschlichen Zusammenlebens. Und die befinden sich spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjet­union in einer Phase der Revolutionierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse.

Es geht mit den Worten des in Zürich lehrenden Historikers Philipp Sarasin um eine »Biopolitik infizierter Körper«. Er liefert in seiner 2004 bei Suhrkamp erschienenen Untersuchung zum Anthrax-Skandal in den USA kurz nach den Anschlägen vom 11. September eine anschauliche Analyse der Bedrohungsszenarien für die Supermacht USA nach dem Ende des »Gleichgewichts des Schreckens«. Wurde die absolute Bedrohung in Zeiten des Kalten Kriegs noch durch strategisches Kalkül eingedämmt, so ist die Drohung nunmehr nicht mehr territorial gebunden. Eine besonders tückische Form der Angsterzeugung ist natürlich die, die den menschlichen Körper als Anschlagsziel definiert und ihn zu infizieren droht. Das Unheimliche daran ist die Möglichkeit, zum Anschlagsziel geworden zu sein, ohne es überhaupt bemerkt zu haben.

In Zeiten, in denen Menschen die Auflösung traditioneller Bindungen und Bezugssysteme – wie Arbeit, Staat und Familie – erleben, scheint das Panikpotenzial besonders groß. Nur so lässt sich erklären, dass manche Leute aufgrund des vagen Gefühls von Bedrohung sogar ihre letzten Freunde ins Tierheim bringen. In solchen Zeiten ist es sogar beruhigend, wenn eine Freundin in Tränen aufgelöst anruft, weil sie ihren alten kranken Kater hat einschläfern lassen müssen. Ein Tier, mit dem sie ihr halbes Leben verbracht hat.