Von der Uni auf die Straße

Die Proteste gegen den »Ersteinstellungsvertrag« haben die gesamte Jugend erfasst, die Gewerkschaften drohen mit einem Generalstreik. Die Regierung aber gibt sich unnachgiebig, und rechtsextreme Schläger greifen Aktivisten an. von bernhard schmid, paris

Das ist wirklich neu, dass selbst die Führungen der größeren französischen Gewerkschaftsverbände vom Generalstreik sprechen. Mit einem solchen drohten sie am Samstag der Regierung unter Premierminister Dominique de Villepin, falls sie nicht binnen 48 Stunden das Gesetz über den »Ersteinstellungsvertrag« (CPE) zurückziehe. In früheren sozialen Konflikten, zuletzt bei der Auseinandersetzung um die »Rentenreform« im Frühsommer 2003, hatten die großen Gewerkschaften den Begriff »grève générale« noch gemieden. Entweder betrachteten sie die Aussicht auf eine solche Kraftprobe als nicht realistisch, oder aber ihre Apparate handelten längst hinter den Kulissen – oder gar davor, wie im Falle der CFDT – die Konditionen für ihre Zustimmung zu den Regierungsplänen aus.

Am Samstagabend hatten sich in Paris die Repräsentanten aller wichtigen französischen Gewerkschaftsverbände versammelt, von den linksalternativen Basisgewerkschaften SUD-Solidaires bis hin zur sozialliberalen CFDT und dem christlichen Gewerkschaftsbund. Es ging darum, eine Bilanz der seit Tagen kulminierenden Proteste in ganz Frankreich zu ziehen. Eine bis anderthalb Millionen Menschen waren am Samstag im gesamten Land zusammengekommen, rund 200 000 hatten allein in Paris demonstriert.

Das Kürzel des umstrittenen »Contrat première embauche«, CPE, wurde bei den Demonstrationen auf vielfältige Weise interpretiert: etwa als »Cadeau Pour Exploiteur« (Geschenk für den Ausbeuter) oder auch »Champagne Pour l’Elite« (Champagner für die Elite) und »Cacahuètes pour Etudiants« (Erdnüsschen für Studenten). Der Konflikt um den »Ersteinstellungsvertrag« wird offenkundig nicht nur als Angelegenheit der unter 26jährigen, die potenziell vom Abschluss eines solchen Vertrags betroffen sind, betrachtet.

Und dies aus gutem Grund. Der CPE ist nur eine von mehreren Maßnahmen, die das Arbeitsrecht massiv einschränken. Bereits im August hatte das Kabinett de Villepins den CNE, einen ganz ähnlichen »Neueinstellungsvertrag«, auf dem Notverordnungsweg, also ohne jede Diskussion im Parlament, eingeführt. Beide Verträge beinhalten eine Regelung, derzufolge jedes neu abgeschlossene Arbeitsverhältnis zwei Jahre lang keinerlei Kündigungsschutz bietet. Während dieser zwei Jahre kann es vom Arbeitgeber ohne Angabe von Gründen aufgekündigt werden. Nach Ablauf der Frist geht der Vertrag in ein normales Arbeitsverhältnis über – es sei denn, der Arbeitgeber hat sich entschlossen, einen neuen Beschäftigten auf der Grundlage eines CNE oder CPE einzustellen. Dass es dem Arbeitgeber nur Vor-, den Lohnabhängigen hingegen enorme Nachteile bringt, wenn diese permanent auf einem Schleudersitz hocken, ist offenkundig. Die Angst vor einer willkürlichen Entlassung würde auf der Grundlage solcher Verträge über jedem Arbeitsverhältnis schweben.

Ausgangspunkt Hochschule

Anfang Februar waren zunächst die Studenten einiger westfranzösischen Hochschulen gegen den neuen »Ersteinstellungsvertrag« in den Ausstand getreten. Als die Hochschulferien im Pariser Raum endeten, breitete sich der Streik dann rapide aus. Dabei ist ein interessanter politischer Radikalisierungsprozess zu beobachten: Zunächst traten die Träger des studentischen Protests, die an den westfranzösischen Universitäten bisher kaum politische Erfahrung gesammelt hatten, für ihre eigenen Interessen in den Streik. An der geisteswissenschaftlichen Hochschule Rennes-2, an der vor nunmehr über fünf Wochen die allerersten Blockaden des Vorlesungsbetriebs stattfanden, entzündete sich der Protest an dem geplanten Abbau von Stellen für zukünftige Sportlehrer. Wegen Sparmaßnahmen im Bildungswesen wurde die Anzahl der ausgeschriebenen Stellen um die Hälfte reduziert. Davon sahen viele Studierende der Sportwissenschaft ihre eigene Zukunft unmittelbar bedroht. Ein paar Tage später jedoch nahmen die Protestkoordinationen und Vollversammlungen die Verhinderung des »Ersteinstellungsvertrags« in ihre Forderungen auf.

Längst hat sich der Forderungskatalog an sämtlichen Universitäten um mindestens zwei Punkte erweitert, von denen die Studierenden nicht unmittelbar betroffen sind: Zum einen wird die Abschaffung des CNE für die über 26jährigen verlangt. Außerdem fordern die Studierenden inzwischen auch die Abschaffung des »Gesetzes für die Chancengleichheit«. Dieses Gesetz enthält neben dem CPE auch Maßnahmen, die speziell für die Jugend aus den Banlieues oder ihr familiäres Umfeld konzipiert sind. Dazu gehört die Bestrafung von Familien, deren Kinder straffällig geworden sind, durch den Entzug bestimmter Sozialleistungen. Auch die Schaffung einer Möglichkeit, bereits mit 14 Jahren in eine Berufsausbildung einzutreten, ist ein Bestandteil dieses Gesetzes. Das träfe vor allem Jugendliche aus Unterschichts- und migrantischen Familien, die man mit dieser Maßnahme auf einen vorzeitigen Abbruch der Schule hin »orientieren« würde. Einen nachweisbaren pädagogischen oder qualifizierenden Gehalt einer solchen Lehre fordert das neue Gesetz übrigens nicht. Stattdessen sorgt es dafür, dass durch eine Sonderregelung künftig auch Nacht- und Wochenendarbeit ab 15 Jahren legal sein werden.

Bereits Ende Februar hatte die in Toulouse versammelte »Nationale Streikkoordination der Studenten gegen den CPE« beschlossen, auch die Freilassung aller Jugendlichen, die im November 2005 im Zusammenhang mit den Riots in den Trabantenstädten inhaftiert wurden, in ihren Forderungskatalog aufzunehmen. Am vorvergangenen Wochenende nun beschloss die Koordination anlässlich einer Tagung in Poi­tiers, sich in »Nationale Koordination der Studierenden, jungen Arbeitenden, Kulturprekären und prekär Beschäftigten« umzubenennen. Dies spiegelt die Erweiterung ihres sozialen Blickwinkels wider.

In der Koordination sind sehr unterschiedliche Kräfte vertreten. Rund ein Drittel stellt die sozialdemokratisch dominierte Unef, die größte Studentengewerkschaft in Frankreich, zusammen mit ihren Verbündeten von der rechtssozialdemokratischen Confédération Étudiante. Etwa ein Viertel dürfte mit den undogmatischen Trotzkisten sympathisieren, ein weiteres Viertel sind Anarchisten und Linksradikale. Den Rest machen Unorganisierte aus. Die Streikkoordination hat es geschafft, sich neben dem Apparat der Unef als eigenständige, organisierende Kraft zu etablieren.

Auftritt Rechts

Seit über einer Woche ist nun auch die extreme Rechte bzw. ihr militanter Flügel aktiv, allerdings mit dem Ziel, die Proteste zu brechen. Dabei sind ihre jungen Anhänger hinsichtlich des CPE äußerst unterschiedlicher Meinung. Dessen Einführung wurde vom Vorsitzenden der rechtsextremen Partei Front National, Jean-Marie Le Pen, zwar prinzipiell begrüßt, allerdings tat er die Maßnahme »angesichts eines unbezahlbar gewordenen französischen Sozialsystems« als schwächliches Reförmchen ab. Die Jugendorganisation der Partei scheint zerstritten.

Doch zumindest ein Teil des rechtsextremen Spektrums hofft, aus der starken Polarisierung der Studentenschaft Sympathien beim konservativen und streikfeindlichen Teil der Studierenden gewinnen zu können, indem man sich als konsequentester Streikgegner präsentiert. Sowohl Jean-Marie Le Pen als auch der katho­lische Nationalkonservative Philippe de Villiers fordern derzeit in der Öffentlichkeit ein nötigenfalls gewaltsames »Entblockieren der Universitäten«.

Tatsächlich ist die derzeit amtierende konservative Regierung die erste, die in der Lage wäre, einen Teil ihrer Anhängerschaft erfolgreich zu Protesten gegen den Streik aufzurufen. Dies zeigte sich bereits im Juni 2003, als während des damaligen Streiks der Verkehrsbetriebe und Öffentlichen Dienste gegen die »Rentenreform« erstmals 15 000 bis 18 000 Demonstranten aus dem konservativ-liberalen Spektrum gegen die Ausstände auf die Stra­ße gingen. Derzeit macht die rechte Studentenorganisation UNI kräftig gegen den Streik Stimmung, allerdings ist ihr eine größere Mobilisierung bisher nicht gelungen.

Bereits am Dienstag voriger Woche waren mehrere Dutzend Anhänger der Neonaziorganisation »Bloc identitaire« vor der geschlossenen, aber von Protestierenden belagerten Sorbonne aufgetaucht. Mit dem Ruf »Parasiten raus aus den Unis!« griffen sie Studenten an. Am Donnerstagabend tauchten erneut rund 80 militante Neofaschisten mit Helmen und Schlagstöcken bewaffnet im Quartier Latin auf. Sie riefen Parolen gegen Linke (»Linksra­dikale, gebt unsere Unis frei!«), die sie auch als »Schmarotzer« bezeichneten. Dabei jagten sie auch einzelne Demonstranten, um sie zu attackieren. Erstmals kam es dabei auch in ihren Reihen zu Verhaftungen. Innenminister Sarkozy nutzte dies, um vor laufenden Kameras zu behaupten, es seien »Links- und Rechtsradikale sowie Rowdys aus den Banlieues« verhaftet worden. Dadurch sollte der Eindruck erweckt werden, Mitglieder gegensätzlicher politischer Lager fänden sich auf verwirrende Weise in dem Protest oder den manchen Demons­trationen folgenden Krawallen zusammen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Kommen Anarchos und manche Kids aus den Banlieues vielleicht, um Auseinandersetzungen mit der Polizei zu suchen, so ist es das einzige Ziel der Neofaschisten, Protestierer zu verprügeln.

Auch an mehreren Hochschulen kam es zu gewalttätigen Angriffen, etwa in Toulouse und kurzzeitig in Nanterre. An der Hochschule Toulouse-1, einer sehr konservativ geprägten Universität für Juristen und Sozialwissenschaftler, die zum ersten Mal überhaupt von ihren Studenten blockiert wird – sogar im Mai 1968 gab es das nicht –, griffen mit Eisenstangen bewaffnete Rechtsextreme am Donnerstagmorgen die Streikposten an. Einige anwesende Professoren begrüßten oder ermutigten die Angreifer, so dass sich der Präsident der Hochschule zu einer Distanzierung veranlasst sah: »Einige Hochschullehrer haben sehr wenig Zurückhaltung an den Tag gelegt«, beklagte er und ließ daraufhin die administrative Schließung der Hochschule anordnen.

Forsche Sozialdemokratie

In der Nacht zum Sonntag beschlossen die in Paris versammelten Gewerkschafter, der Regierung ein Ultimatum zu stellen: Bis Montag­abend solle sie das CPE-Projekt zurückziehen. Nach Ablauf dieses Ultimatums, so ihr Beschluss, wollten die Gewerkschaftsorganisationen in der Nacht zum Dienstag über die folgenden Konsequenzen beraten.

Erstmals ist dabei der Begriff »Generalstreik« nicht mehr tabu. Am Samstag vor dem abendlichen Treffen nahm CGT-Generalsekretär Bernard Thibault ihn bei einem Radioauftritt in den Mund. Auch auf der Pressekonferenz der Gewerkschaftsverbände, die sie im Anschluss an ihr Gipfeltreffen am Samstag gegen 23 Uhr abhielten, fiel das Wort von der »grève générale« und wurde prompt in den Berichten des öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders Radio France Info übernommen. In der gemeinsamen Abschlusserklärung der Gewerkschaften taucht es dagegen nicht auf.

Nach Auffassung einiger Kritiker in den Gewerkschaften selbst, etwa bei der CGT, setzt ihr Apparat darauf, Zeit zu gewinnen. Die Führung favorisiere, so heißt es, einen Termin für einen allgemeinen Ausstand nicht vor dem 30. März. Die nationale Streikkoordination der Jugend dagegen schlug vor, einen solchen Ausstand für Donnerstag dieser Woche auszurufen. Das wünschen die Verantwortlichen bei der CGT aber dem Vernehmen nach nicht, denn an diesem Donnerstag finden die Personalratswahlen der französischen Eisenbahner statt – und aus Sicht der Bürokraten haben diese Wahlen Vorrang vor der allgemeinen sozialen Dynamik im Land. Zudem streiken am Donnerstag, einem Aufruf der CGT folgend, auch die Angestellten des Energieversorgungsunternehmen Gaz de France wegen der drohenden Privatisierung. Wenn der Apparat der Gewerkschaften aber eines nicht dulden will, dann die Entstehung einer Dynamik, die er nicht länger kanalisieren kann.

Dennoch könnten, wenn die Regierung nicht nachgibt, die Proteste wachsen. Darin liegt der wesentliche Unterschied zum Kampf um die »Rentenreform« im Frühling 2003. Damals behinderten die Führungen der großen Gewerkschaftsverbände die Proteste, so gut sie konnten. Ihre Befürchtung bestand darin, dass die Regierung, damals unter Jean-Pierre Raffarin, ihre Macht verlieren könnte, ohne dass die eigenen Ge­sprächs­partner – in Gestalt der sozialdemokratischen Parlamentsopposition und vielleicht noch der KP – für eine Regierungsübernahme gut aufgestellt wären. Auch jetzt haben viele Führungsmitglieder der Gewerkschaftsverbände die Vorstellung, dass es das Wichtigste sei, im kommenden Jahr einen Regierungswechsel herbeizuführen, denn unter den Sozialdemokraten werde alles besser.

Allerdings rät die französische Sozialdemokratie selbst den Gewerkschaftsführungen im Augenblick von allzu viel Zurückhaltung ab, weil sie wohl der Ansicht ist, dass sie die Wahlen nicht vom Sessel aus gewinnen wird. Sogar der sozialliberale frühere Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn vom rechten Flügel der Sozialistischen Partei rief am vorvergangenen Sonntag im Fernsehen dazu auf zu demonstrieren. Deswegen ist in den kommenden Tagen und Wochen ausnahmsweise nicht damit zu rechnen, dass die Gewerkschaftsführungen so schnell nachgeben, wie sie dies nicht nur bei der »Rentenreform« taten. Ein schnelles Ende der Proteste ist daher nicht abzusehen – falls die Regierung nicht doch einen Rückzieher macht.