»Alles ist hier möglich«

Ein Gespräch mit dem Politologen marco revelli von der Universität Turin

In Kürze wird Ihr Buch »Berlusconismus ohne Berlusconi« erscheinen. Ist der Titel ein Hinweis auf die Zeit nach der Wahl?

Was Italien nach den Wahlen erwartet, ist noch völlig offen. Alles ist in diesem Land möglich, sogar, dass nach fünf in jeder Hinsicht katastrophalen Jahren die Mehrheit der Italiener sich erneut für die Mitte-Rechts-Koalition entscheidet. Der Berlusconismus ist nicht nur ein politisches, sondern auch ein soziales Phänomen. Ich nenne das die »Anthropologie des Besitzindividualismus«.

Damit meine ich das Ergebnis eines Prozesses der sozialen Desintegration. Soziologen wie Richard Sennett und Zygmunt Bauman schreiben allgemein vom »flexiblen Menschen« und von der »flüchtigen Moderne«. Die großen sozialen »Sammelbecken«, wie wir sie vor 30 Jahren kannten, haben sich aufgelöst. Ohne diese soziale Zersetzung hätte sich der Berlusconismus nicht entwickeln können. »Unpolitisch« ist er in dem Sinne, dass er durch vulgäre, einfache Parolen diesen individualistischen Geist interpretiert: Bereichert euch! Jede Form von solidarischer Kultur ist ein Hindernis, von dem man sich im Namen des Profits befreien sollte!

Die »moderne« Regierungsrechte hat aber nicht nur einem diffusen Geist, sondern auch einer bestimmten sozialen Gruppe politisch Ausdruck verliehen.

Der Berlusconismus ist entstanden als Folge der Krise des großindustriellen Kapitalismus, um die neuen Figuren in der Arbeitswelt zu repräsentieren, insbesondere die Vertreter eines »verstreuten« Kapitalismus. Dieser sozialen Gruppe gehören Unternehmer sowie »persönliche Kapitalisten« an, die an den Produktionsprozessen als Individuen beteiligt sind: Ich-AG, Selbständige, »Selbstunternehmer«, Familienbetriebe usw. Hinzu kommt eine ganze Mittelschicht, der Berlusconi und seine Partei in den neunziger Jahren ein glückliches Älterwerden durch vorsichtige Börsenspekulationen und Investitionen von kleinen Geldsummen versprochen haben.

In den vergangenen fünf Jahren hat diese Mittelschicht begriffen, dass der versprochene »Volkskapitalismus« nicht funktioniert. Insofern kann man sagen, dass gewisse Aspekte des Berlusconismus keine Rolle mehr spielen. Die optimistischen, hedonistischen Seiten haben nicht überlebt. Der harte Kern des Berlusconismus lebt dagegen in der Gesellschaft weiter.

Hätte eine linke Regierung überhaupt eine Chance, daran etwas zu ändern?

Berlusconi stützt sich auf einen Konsensmechanismus, der durch die Identifikation mit einem bestimmten Lebensmodell funktioniert. So etwas kann man nur bekämpfen, wenn man dem eine »andere Anthropologie« entgegensetzt. Das bedeutet: eine neue Sprache, neue Werte, ein neues Lebensmodell. Aber das ist sicher keine Aufgabe, die von einer Koalition erledigt werden kann, die sich »Mitte-Links« nennt. Eher von den Initiativen, die sich durch ihr Engagement im sozialen Bereich gegen die Logik des »wilden« Neoliberalismus aktiv wehren. Ich denke an Gruppen, die mit Migranten oder im Umweltschutz arbeiten, oder an die letzten Häuserbesetzungen gegen die Wohnungspolitik in Rom. Wichtig ist der Bruch der individualistischen Dimension.

Einige Angehörige der sozialen Bewegungen kandidieren für die Mitte-Links-Koalition. Ist das der Anfang eines Kampfes für eine »andere Anthropologie« im Parlament?

Wenn Angehörige der sozialen Bewegungen auf lokaler Ebene mitregiert haben, war die Erfahrung nicht, dass sie die Politik veränderten, sondern durch diese verändert wurden. Die sozialen Bewegungen sollten ihre Kritik radikalisieren und durch ihre Legitimierung von unten mit der Politik interagieren.

interview: federica matteoni