Report aus der Parallelwelt

Vive la France? Vive la France! Der DGB droht mit französischen Protesten, sollte die Bundesregierung den Kündigungsschutz wie geplant einschränken. von stefan wirner

Wo befindet sich Frankreich? Auf der anderen Seite des Globusses? Leben die Franzosen in einer Parallelgesellschaft? Der Aufstand gegen den so genannten Ersteinstellungsvertrag wird hierzulande beschrieben wie der Vorgang auf einem anderen Stern. Der Protest wird psychologisiert, kulturalisiert und in das Metaphysische transferiert, nur als das, was er ist, wird er nicht bezeichnet, nämlich als Widerstand gegen den Abbau der Rechte von Lohnabhängigen, als Interessenkonflikt.

Viele Berichterstatter behaupten, dass es in der Revolte nicht so sehr um den Inhalt des Gesetzes, sondern eher um die Art und Weise gehe, wie es verabschiedet wurde. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint: »Das arrogante Vorgehen der Politik, vollendete Tatsachen zu schaffen, fällt bei der Ablehnung stärker ins Gewicht als die Reform selbst.« Wenn jemand gegen die Einschränkung seiner Rechte ist, kann es nur daran liegen, dass ihm etwas nicht richtig erklärt wurde. Die Politik hat dann ein »Vermittlungsproblem«.

Das Hamburger Abendblatt sieht den Aufruhr in der Eigenart der Nachbarn begründet: »In Frankreichs Kultur scheint eine regelrechte Streikbegeisterung verankert zu sein.« Diese sei »ein Überbleibsel der Revolutionsgeschichte«, also offenbar nichts, was im Hier und Jetzt angebracht ist. »Das Beharren auf dem Sozialstaat ist in Frankreich stärker verankert als in Deutschland.«

Vom »Muff der 30 fetten Jahre« spricht der Tagesspiegel. »Hinter dem Mythos der Revolutionen der Vergangenheit verbirgt sich ein erzkonservatives Land, das sich aus Angst vor Veränderungen an den Status Quo klammert.« Auch die Süddeutsche Zeitung analysiert wie gewohnt schonungslos, wenn es um bestimmte »Veränderungen« geht: »In den Demonstrationen der Jugend, so hat es den Anschein, empört sich Frankreich gegen den Einbruch einer globalisierten Wirklichkeit, von der die Politiker allzu lange glaubten, sie mittels des von ihnen gefeierten und aller Welt als vorbildlich gepriesenen sozialen Modells Frankreich den blau-weiß-roten Grenzpfählen fernhalten zu können.«

Altmodisch sind sie geworden, die Franzosen, sie haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt und sind nicht mehr en vogue. Gut, dass wir Angela Merkel und die große Koalition haben. Gut, dass wir Deutschen nicht so konservativ sind und dem Sozialstaat mal eben »Adieu« sagen. Wir haben, dank des BDI, des BDA und des Ifo-Instituts, eine Antwort auf die Globalisierung. Wir haben eingesehen, dass wir alle länger arbeiten müssen, obwohl Millionen von Menschen arbeitslos sind. Wir glauben daran, dass Unternehmer mehr Leute einstellen, wenn sie diese leichter feuern können, obwohl es dafür keine Beweise gibt. »Wir sind bereit«, mein­te die SPD bereits 1998, während die Grünen »ein Land reformieren« wollten. »Mit Mut und Menschlichkeit«, verspricht die große Koali­tion heute.

Die Bundesregierung hat Gesetzesänderungen geplant und verwirklicht, von denen französische Deregulierer bisher nur träumen können. So wurde das Rentenalter auf 67 Jahre angehoben. Und der Kündigungsschutz soll in den ersten zwei Jahren der Beschäftigung für alle Lohnabhängigen aufgehoben werden, nicht nur für Berufsanfänger unter 26 Jahren, wie es in Frankreich geplant ist. »Probezeit« nennt es sich, wenn man in einem Betrieb schuftet und jederzeit entlassen werden kann.

Über diese Entscheidungen hat sich niemand lauthals beschwert. Das Vertrauen in die Regierenden war lange nicht mehr so groß wie in diesen Tagen, und Angela Merkel ist beliebter denn je. Dennoch drückt sich in den Artikeln über den Aufruhr in der Nach­barschaft ein Unbehagen aus. Fast scheint es, als stünde mit dem fran­zösischen Ersteinstellungsvertrag auch die »Agenda 2010« und die Politik von SPD und CDU/CSU in Frage. Die Verve und Entschlossenheit, mit der die Demonstrationen entpolitisiert werden, enthüllen ein schlechtes Gewissen. Befürchtet man, dass doch der einen oder dem anderen etwas auffällt, wenn sie die Berichte aus Paris oder Rennes im Fernsehen sehen? Könnte sich der Gedanke verbreiten, dass es doch lohne, sich für seine Interessen einzusetzen?

Den Ton, in dem über Frankreich gesprochen wird, kennt man bereits. Als derart weltfremd wird für gewöhn­lich nur die Politik der Gewerkschaften beschrieben. Und das zu Unrecht. Seit dem vorigen Herbst liegen die Plä­ne der Bundesregierung vor, den Kün­digungsschutz einzuschränken, doch erst in der vergangenen Woche erhob der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, seine berüchtigte zarte Stim­me des Protests. In der Probezeit be­fin­de sich der Lohnabhängige in einem »ungesicherten Arbeitsverhältnis, und damit bekommt man weder eine Wohnung noch einen Bankkredit«, fand er nach einem halben Jahr Räsonnement heraus. Sollte der Plan Gesetz werden, würden die Gewerkschaften zu Protesten nach französischem Vorbild aufrufen.

Droht ein Aufruhr »à la francaise«? Einen Moment, bitte! Der Pressesprecher des DGB, Hilmar Höhn, sagte der Jungle World: »Wir vertrauen auf die Kraft der Argumente. Wir raten der Bundesregierung sehr intensiv, sich noch mal die Realität anzuschauen.« Auf die Frage, warum der DGB erst jetzt die geplanten Änderungen des Kündigungsschutzes kritisiere, sagte er: »Man fragt sich natürlich: Wie mobilisierungsfähig wäre das Thema? Die Wahrnehmung ist vor dem Hintergrund der französischen Proteste eine andere. Wenn wir zuvor Kritik an den Plänen äußerten, wurde sie nicht wahrgenommen.«

Die Unternehmerverbände und Politiker der CDU/CSU kritisieren das Vorhaben seit Wochen, und sie werden auch gehört. Was sie stört, ist die Regelung, dass zwar eine zweijährige Probezeit eingeführt werden soll, dafür aber die Möglichkeit abgeschafft wird, Arbeitsverhältnisse auf zwei Jahre zu be­fristen. Viel bequemer wäre doch eine Wahlmöglichkeit zwischen beidem, denken sie. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Volker Kauder, will die Vereinbarung des Koalitionsvertrags noch einmal besprechen. »Regierungsarbeit kann nicht nur darin bestehen, den Koalitionsvertrag umzusetzen«, meint er. Auch Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) will »drauf­satteln« und »Beschäftigungshemmnisse möglichst zurückdrängen«. Der Kün­di­gungs­schutz als »Beschäftigungshemmnis« – ob der deutsche Lohnarbeiter die­sen Sprachtest besteht?

Die SPD reagiert auf die Ideen des Part­ners sozialdemokratisch-dialektisch. Franz Müntefering hat herausgefunden: »Arbeitnehmerrechte schleifen bringt am Arbeitsmarkt und ökonomisch nichts.« Und das, nachdem er ohne Zaudern die »Rente mit 67« eingeführt hat. Der Parteivorsitzende Mat­thias Platzeck verspricht: »Ich sage klipp und klar: Mehr Einschnitte beim Kündigungsschutz gibt es nicht.« Das muss man den Sozialdemokraten erst einmal nachmachen: den Kündigungsschutz einzuschränken und sich dann als Verfechter des Kündigungsschutzes zu geben.

Merkel ließ in der vorigen Woche von ihrem Sprecher Thomas Steg ausrichten, bis auf weiteres solle es bei den Verabredungen im Koalitionsvertrag bleiben. Immerhin scheinen die De­mons­trationen in Frankreich die deutschen Lohnabhängigen vorerst vor einer Verschlechterung der Verschlechterung zu bewahren. Wie sagte der Philosoph Arthur Schopenhauer so treffend: »Den Deutschen hat man vorgeworfen, dass sie bald den Franzosen, bald den Engländern nachahmen: das ist aber gerade das Klügste, was sie tuen können: denn aus eigenen Mitteln bringen sie doch nichts Gescheutes zu Markte.«