Therapiert woanders!

Bürger in Berlin-Heiligensee haben nichts gegen Therapien für sexuell missbrauchte Jungen. Außer, wenn sie in ihrer Nachbarschaft stattfinden. von guido sprügel

Sexkranke« und »Sex-Täter« wolle das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) Lazarus in Heiligensee in einer Wohngruppe therapieren, und das in der Nähe von sechs Kitas, schrieb die Berliner Boulevardpresse. Bei solchen Bezeichnungen reagiert die Volksseele bekanntlich sehr sensibel. Nicht nur bekennende Neonazis for­dern seit längerem die Todesstrafe für Kinderschän­der.

Bei den »Sex-Tätern«, die in die therapeutische Wohngruppe »Male« in das Diakoniezentrum in Heiligensee hätten einziehen sollen, handelt es sich um acht Jungen ab 12 Jahre, die sexuelle Gewalt erlebt haben und selbst sexuelle Auffälligkeiten zeigten. Dabei handele es sich nicht um Straffälligkeiten, betont der Träger, sondern eben lediglich um Auffälligkeiten, die eine sozialtherapeutische Unterbringung und Betreuung erforderten. »Wir wollen damit verhindern, dass die Jungen später tatsächlich zu Tätern werden«, sagt Ulrike Thiel vom EJF.

Der Therapieansatz von »Male« ist in der Fachwelt unumstritten. In der ganzen Bundesrepublik gibt es solche Wohn- oder Therapiegruppen. »Auffälligkeit« ist dabei ein sehr weit gefasster Begriff. Viele missbrauchte Jungen zeigen ein sexualisiertes Verhalten, auch gegen vermeintlich Schwächere. Genauso kann sich die »Auffälligkeit« jedoch im Ver­borgenen abspielen. »75 Prozent der Jungen, die mit sexualisierter Gewalt in Berührung kommen, erzählen nie, was ihnen passiert ist: Ihnen wird sug­geriert, dass man nur ein Junge ist, wenn man keine Schwäche zeigt«, sagt Volker Mör­chen vom Bremer JungenBüro, das seit langem mit männlichen Opfern von sexueller Gewalt arbeitet. Wichtig, sei die therapeutische Arbeit mit ihnen allemal, ist sich die Fachwelt einig.

So weit stimmten auch die Anwohner in Heiligensee dem EJF zu. Ja, die Arbeit sei sinnvoll und notwendig, aber nicht bei uns, hieß es in einer hitzigen Debatte am Dienstag voriger Woche. Der Tagesspiegel berichtete sogar von indirekten Drohungen bei dem Treffen. Der Vorstand des EJF zog daraufhin seine Pläne zurück. Dessen Vorsitzender, Siegfried Dreusicke, begründete den Schritt in einer Presseerklärung: »Den betroffenen Kindern ist es nach der Berichterstattung auch nicht mehr zuzumuten, an den geplanten Standort zu ziehen.« Er bedauerte die unsachliche Ablehnung des Vorhabens. Darüber hinaus verurteilte er die »skandalöse Berichterstattung«, welche die Jungen »vorver­urteilt und somit doppelt zu Opfern gemacht« hätte.

In der Tat hatten sowohl die Berichterstattung als auch die Reaktionen der Anwohner geradezu hyste­rische Züge angenommen. Die Neigung zu einer »Wegsperrmentalität«, wie sie bis in die späten sechziger Jahre in der Bundesrepublik vorherrschte, schien spürbar. Das könne nicht die Lösung sein, betonte etwa die Landesärztekammer Baden-Württemberg in ihrem Landtagswahl­kampf und forderte die Einrichtung von Kinderschutzambulanzen.

»Das fordern wir seit 13 Jahren – bislang ohne Erfolg«, sagt Anne Gräfin Vitzthum, die Vorsitzende des Ausschusses »Gewalt gegen Kinder« in einer Presseerklärung. Die psychiatrische und psychologische Diagnostik und Therapie sei ein wesentlicher Bestandteil dieser Kinder­schutz­am­bulanzen. Nur durch eine frühzeitige therapeu­tische Begleitung gerade von Jungen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, könne die spätere Opfer-Täter-Biographie durchbrochen werden, so auch die Erfahrung der Landes­ärztekammer.

Doch das Bei­spiel Heiligensee zeigt, dass nicht nur Geldmangel oder der fehlende politische Wille eine Therapie verhindern können, sondern auch das Streben nach der heilen Welt in deutscher Nach­barschaft.