Der unsichtbare Mann

Kent Jones über die traurige Welt des Filmemachers Spike Lee

Es ist noch keine zehn Jahre her, da war Spike Lees Kino ein kritischer und kultureller Blitzableiter. Seine Relevanz ließ sich schon allein anhand des Gezeters von einander heftig widerstreitenden Positionen rund um seine Filme ablesen.

Es ist nicht schwer, sich eine Szene aus einem Lee-Film vorzustellen, in der sich eine Horde von Filmkritikern Meinungen über den relativen Wert des Werkes eines jungen afroamerikanischen Filmemachers entgegenschleudert. Und das aufgenommen aus einander kontrastierenden Blickwinkeln und in perfekt arrangiertem Licht.

Seine weniger elaborierten Bewunderer taten ihm gewiss keinen Gefallen, indem sie ihn als »Erneuerer« feierten. (Was für ein Erneuerer! Seine typische Schauspieler-auf-dem-Dolly-Einstellung, die er aus Martin Scorseses »Mean Streets« (dt.: Hexenkessel; 1973) abgekupfert und seit »Mo’ Bet­ter Blues« (1990) monoton in jedem seiner Filme wiederholt hat, ist auf todlangweilige Weise daneben und vermittelt Zuschauern, die es nicht besser wissen, bloß das Gefühl, bestimmte Gehsteige in New York seien mit Rollbändern ausgestattet.)

Dann gab es jene Kritiker, die behaup­teten, Lee würde im Grunde nur althergebrachtes »soziales Bewusstsein« in einem Rockvideo-Mikrowellenherd aufwärmen. Aber das klassische soziale Bewusstsein von, sagen wir, »To Kill A Mockingbird« (Wer die Nachtigall stört; 1962; R: Robert Mul­ligan) beginnt mit einer Abstraktion – der Rassismus und wie er überwunden werden kann – und strukturiert die Erzählung dementsprechend: Ein rassistischer Übel­täter und ein rechtschaffener Mann bekämpfen einander vor dem Hintergrund eines amorph-indifferenten Pöbels, der zwischen der einen und der anderen Position schwankt und schließlich der Vernunft nach­gibt.

Lee hingegen wählt als Ausgangspunkt immer die Spezifika, die das gebrochene Bewusstsein afroamerikanischer Männer definieren. »Hey, Daddy, ich lutsche deinen großen schwarzen Schwanz für zwei Dollar«, sagt die Teenager-Nutte zu dem von Wesley Snipes gespielten Flipper Purify, ehe er vor Empörung aufschreit und sie am Ende von »Jungle Fever« (1991) in die Arme nimmt.

Das ist einer der wenigen mitreißend-rhetorischen Augenblicke des modernen Kinos, der sein Gewicht und seine Selbstherrlichkeit auch verdient, weil er der Kulminationspunkt einer ganzen Batterie von Ängsten, Schrecknissen, Enttäuschungen und Täuschungen ist, die Lee zuvor alle mit der für ihn typischen holzschnittartigen Klarheit herausgearbeitet hat.

Schließlich gab es die Kritik, Spike Lee sei eine Art überdimensionierter Filmstudent. Das erscheint zwar etwas nachvollziehbarer, ist aber grundsätzlich falsch und unverschämt herablassend. Gemeint war wohl, dass Lee ein Angeber ist, und das ist allerdings wahr. Seine Kamera findet niemals Ruhe, kein Gang entlang eines Häuserblocks ist bei ihm vollständig ohne mindestens sechs Perspektivwechsel.

Außerdem wirft er immer wieder ästhe­tische Hüllen über große Teile seiner Filme. Er wechselt das Filmmaterial für verschiedene Schauplätze (in »Clockers«; 1995, und »Get On The Bus«; 1996), verwendet Hi-Definition-Videobilder für die anonymen Anrufer in »Girl 6« (1996) und die berüchtig­ten (und wirklich ärgerlichen) gequetsch­ten anamorphotischen Bilder für den in den Südstaaten spielenden Teil von »Crooklyn« (1994). Und dann sind da noch die Popsongs, die über weite Strecken seiner Filme gegossen werden. Es gibt wenige Filmemacher, deren Werk weniger organisch wirkt und mehr wie die Summe ihrer ästhetischen Entscheidungen.

Momente als Zeichen

Es gibt wenige Filmemacher, die weniger daran interessiert (oder weniger fähig?) sind, uns den Rhythmus einer alltäglichen Existenz zu vermitteln. Spike Lees Welt ist fast gänzlich frei von täglichen Verrichtungen und Handlungen, die das Rückgrat der meisten Filme ausmachen. Und zeigt Lee doch einmal »Alltagsleben«, ist es oft auf ein Level überhöht, das die Grenzen der Absurdität sprengt.

Die Darstellung von Annabella Sciorras Familie in »Jungle Fever«ist so von der Rea­lität abgehoben und so frei von Nuancen, dass man meinen könnte, Italian Family sei eine neue Geschmacksrichtung für Salatdressing. Am peinlichsten sind die Eröffnungsszenen von »Malcolm X« (1992): ei­ne Heraufbeschwörung der zoot-suit-Kultur (1) aus fünfter Hand. Lees gnadenlose, unablässige Kontrolle vermittelt das Gefühl, dass seine guten Schauspieler und Schauspielerinnen (Wesley Snipes, Denzel Wa­shing­ton, Angela Bassett, Alfre Woodard, Giancarlo Esposito), wenn sie denn mal ein paar Punkte machen, ihrem Regisseur eins auswischen.

Tatsache ist, dass Lesbarkeit und Sichtbarkeit für Spike Lee wichtiger sind als irgendetwas sonst. Jeder Film hat sein ins Auge springendes Design, und jeder Moment dauert nur so lange, wie es braucht, ihn als Zeichen zu etablieren. Alles, was da­rüber hinausgeht, erscheint Lee wie Stillstand. In diesem Sinne ist er ein völlig unrhythmischer Filmemacher. Tempo und Fein­heiten werden zugunsten von Klarheit geopfert.

Seinen spärlichen Versuchen zuzusehen, Ungezwungenheit zu zeigen, ist faszinierend, weil er völlig unwillig ist, seine Besessenheit vom Visuellen aufzugeben. (Bild und Ton erscheinen oft wie zwei eigenständige Kategorien mit ihren eigenen Energien: Während die Bilder verspannt, verkrampft und fixiert wirken, sind seine Soundtracks immer mächtige Ströme an Worten und Musik.)

Als Denzel Washington als Bleek in »Mo’ Better Blues« eine Melodie komponiert, stellt Lee den armen Schauspieler auf einen Dolly und wirbelt den Raum um ihn herum. Das ähnelt Troys Klebstoffschnüffeltraum in »Crooklyn«, in dem er über den Häuserblock zu fliegen vermag. Auch dort ist der Schauspieler praktisch an die Kamera geheftet.

Was einen Eindruck von Abheben, von Leichtigkeit vermitteln soll, künstlerisch im ersten Fall, psychosexuell im zweiten, wirkt stattdessen klinisch sauber und schwerfällig. Beim genaueren Hinschauen jedoch (und genauer hinzuschauen lohnt sich bei Lees Filmen) ist die Szene aus »Mo’ Better Blues« vom Konzept her richtig, denn die Story handelt davon, dass künstlerischer Ausdruck das ungesunde Resultat einer Über­tragung mühsam unterdrückter Aggres­sion von der Mutter auf den Sohn sein kann, eine Maske der Beherrschung, die man in einer rassistischen Welt trägt.

Das kommt einem Selbstporträt ziemlich nahe, zumindest, wenn man Lees Filme als Belege heranzieht (und sein Schauspiel: In all seinen Rollen scheinen Lees Stimme und sein Körper in zwei verschiedene Richtungen zu gehen; das hat etwas von einem bizarren und ziemlich verblüffenden Ausweich­manöver).

Während der Periode größter Öffentlichkeit empörten sich seine Gegner darüber, dass sich hinter all dem »Stil« nur Leere verberge. Doch welcher andere Filmemacher hat größere Fertigkeit darin bewiesen, den Mechanismus des US-amerikanischen Rassismus zu beschreiben und ihn als lebenden Organismus statt als starre Größe zu verstehen?

Das ist kein kleines Verdienst, auch wenn ein Film so künstlerisch leblos und breiig ist wie »School Daze« (1988) oder »Mo’ Better Bues«. Das Beharren darauf, nichts dem Zu­fall zu überlassen, das Lees Darstellungen von Jazzclubs, Stadtvierteln und Mittelklassehaushalten so verflachen lässt, dass sie wie am Computer entworfen wirken, hat eine schmerzliche, außerfilmische Schärfe. Man fühlt die Sehnsucht des Regisseurs loszulassen, aber sie wird immer gehemmt von der Angst, etwas ohne den Schutz seines flinken Verstandes zu machen. Seine Filme sind persönlich im seltsamsten Sinne: Der Künstler offenbart sich durch die unzähligen Methoden, mit denen er versucht, seine Persönlichkeit zu tarnen.

Didaktik und Dialektik

Das Filmstudenten-Argument war die Kehrseite der Medaille der absurden Anklagen gegen Lees »umgekehrten Rassismus« (reverse racism), seinen Separatismus, seine Absicht, die Kluft zwischen Schwarz und Weiß zu vertiefen – all das war Quatsch, angefangen bei der unsinnigen Annahme, Lee sei so etwas wie ein Special-Interest-­Filmemacher.

Abgesehen davon, dass Lee selbst ständig die Gefühle seiner kontroversen Figuren zugeschrieben wurden, fiel bei der Kritik an seiner Arbeit der kaum verhohlene Eifer auf, diese auf ihren kleinsten kinematischen Nenner zu reduzieren und unter den Teppich zu kehren. Die Idee, Lee sei eine Art von Pro­pagandist, erwächst aus etwas, was man nur als Angst verstehen kann. Die Angst, er könne auf das heilige Territorium des amerikanischen Kinos und seiner Mythen vordringen.

Es ist die gleiche Angst, die einen Freund von mir einmal veranlasste, einen Bekannten, der neben ihm auf einem Barhocker saß und sagte, er habe Angst, nach Harlem zu fahren, zu fragen: »Verstehe ich das richtig? Du hast Angst, ein weißer Mann in Amerika zu sein?«

Lee ist immer gegen das Bild des »aus­gewogenen Filmemachers« aufgetreten, der das Gleichgewicht zwischen dem Thematischen und dem Organischen, zwischen ­Action und Emotion hält. Als Künstler hat er sich deutlich zwischen Didaktik und Dialektik positioniert.

Das Didaktische zeigt sich in seinem uner­müdlichen Bemühen, die Sehnsüchte, Frustrationen, latenten Ängste und die Klassenunterschiede afroamerikanischer Männer im Mainstream, das heißt, weißen, rassis­tischen Amerika sichtbar und fühlbar zu machen (an Frauen ist er weniger interessiert, aber er hält seine Filme auf demokratische Weise für sie offen, wie in der end­losen, aber sehr aufschlussreichen, improvisierten Diskussion – ganz wie Oprah Winfrey (2) – in »Jungle Fever«).

Die dialektische Seite manifestiert sich in der rigorosen Art und Weise, in der Lee gegensätzliche Komponenten der US-amerikanischen Gesellschaft aufschlüsselt. Diese ist für ihn ein Topf, in dem nichts verschmilzt, sondern alles bloß gerinnt. (Er war nie an der Hollywood-Idee vom »posi­tiven Image schwarzer Menschen« interessiert, nach der Wesley Snipes oder Samuel L. Jackson dieselbe Chance wie Bruce Willis oder Harrison Ford erhalten sollten, auch mal in idiotischen Actionfilmen mitzuspielen.)

Die daraus resultierende Spannung, die die Figuren in einem Raster zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen festhält, ist in all seinen Filmen spürbar, vom vernachlässigbaren »Girl 6« bis zum hymnenartigen »Get On The Bus«, vom syn­thetisch-einfühlsamen »She’s Gotta Have It« (1986) bis zum großspurigen »He Got Game« (1998), vom schrecklichen, aber irgendwie liebenswerten »School Daze« bis zu den Meisterwerken »Do The Right Thing« (1989) und »Jungle Fever«.

Genau diese Spannung macht etwas Selt­sames, aber unleugbar Schönes aus »Crook­lyn«, einer autobiografischen Reminiszenz, gesehen mit den Augen von Lees Schwester Joie (er schrieb das Drehbuch gemeinsam mit ihr und Bruder Cinqué), die die Möglichkeit einer Proustschen Reverie verweigert, zugunsten einer systematischen und scheinbar lückenlosen Untersuchung der zentralen Fragen, Obsessionen und Bilder einer typischen afroamerikanischen Kindheit der Frühsiebziger.

Es ist ein packender Film, in dem die Hand­lung – dank des »Daughters Of The Dust«-Kameramannes Arthur Jafa (1991; R: Julie Dash) – interessanterweise mit einer feinfühligeren visuellen Palette gemalt ist, als die polierten Farbtöne Ernest Dickersons das erlaubt hätten. Die Bilder erinnern an Wandmalereien in einer Volks­schule.

Politische Direktheit

Lee als Filmemacher wahrzunehmen, im Unterschied zur öffentlichen Figur und zum Provokateur, ist über die Jahre vernachlässigt worden. Aufschlussreich als Vergleich wäre Claire Denis, eine Filmemacherin, die ebenfalls den multikulturellen Aufbau des modernen Lebens darstellen will. Obwohl das heute nicht mehr ganz so zutrifft, begann Denis wie Lee mit einem sehr eigenwilligen Stil. Eine Handkamera in »S’en Fout La Mort« (Scheiß auf den Tod; 1990), ineinander greifende Erzählstränge in »J’ai Pas Sommeil« (Ich kann nicht schlafen; 1994), extreme Close-up-Sinnlichkeit, die über »Nénette Et Boni« (1996) gekleckert wird. Aber für ihre Figuren gibt es Momente des Trostes und der Reflexion, keine wie auch immer gearteten jedoch für die Figuren Lees.

Die Leute in seinen Filmen sind ebenso vorsichtig und zaudernd wie ihr Schöpfer, der wohl nie entspannt genug sein wird, um einen spontan entstandenen autobiogra­fischen Film wie »US Go Home« (1994; R: Claire Denis) zu drehen. Ein Vorgänger Lees im Weltkino wäre Nagisa Oshima, in dessen Filmen die geduldige Anhäufung von trockenen Details und einander be­kämp­fenden Kräften mit einer emblematischen Aktion auf dem Höhepunkt des Films explodiert.

Das Ende von »Jungle Fever« oder die Müll­tonne, die Mookie in »Do The Right Thing« durch das Fenster der Pizzeria wirft, sind Oshimas Kulminationspunkten täuschend ähnlich, etwa dem Essen des Apfels in »Seishun Zankoku Monogatari« (Grausame Geschichten der Jugend; 1960), der Feuersbrunst am Ende von »Taiyo No Hakaba« (1960) oder dem Moment in »Natsu No Imoto« (1972), als das Mädchen sagt: »Man hätte den Japanern Okinawa nie zurückgeben dürfen.«

Oshima ist ein auf natürliche Weise eleganterer und ökonomischerer Filmemacher als Lee – mehr wahrscheinlich, als er es in seinen zornigeren Tagen zugegeben hätte –, aber sie teilen eine Obsession für Klarheit, Genauigkeit und das Hintanstellen persönlicher Belange zugunsten politischer Di­rekt­heit. Ein interessanter kultureller Unterschied: Während man sagen könnte, dass Lee all seine Figuren »mag«, könnte man meinen, dass Oshima die seinen alle »hasst«, zumindest in seinen frühen Arbeiten wie »Nihon No Yoru To Kiri« (Nacht und Nebel über Japan; 1960).

Lee ist zugleich düsterer und modischer als sein gnadenlos tougher japanischer Verwandter. (Es kann nicht überraschen, dass er sich in »25th Hour« (2002) als erster Filmemacher auf 9/11 stürzte.) Es gab bei ihm immer eine Menge geheuchelte Hochstimmung, Fünfziger-Jahre-Sentimentalität und dummes Gerede. Es ist faszinierend, dass seine Filme zwar den Tonfall von Old-School-liberalen Filmen wie »Twelve Angry Men« (Die zwölf Geschworenen; 1957; R: Sidney Lumet) annehmen, aber eine völlig andere Form von Schematismus aufweisen.

Er hat immer großen Aufwand betrieben, um das zu verhüllen, was eigentlich eine verzweifelte Vision menschlicher Existenz ist, in der der Hintergrund von Uneinigkeit und Polarisierung nicht nur niemals zu trans­zendenten Handlungen und zu Verständnis führt (so wie es der Kuss am Ende von Oshimas »Merry Christmas, Mr Lawrence« (Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence; 1983) oder der abschließende ekstatische Tanz in Denis’ »Beau Travail« (Der Fremdenlegionär; 1999) tun), sondern die Figuren gnadenlos überschattet.

Wenn es nicht ohnehin in den rastlosen Bildern und durch seine auf neurotische Weise inaktiven Figuren zu spüren ist – diese vollführen, wie bei Fassbinder, immerzu kleine, eng umschriebene Bewegungen innerhalb einer limitierten Anzahl von Handlungsmöglichkeiten, sodass sie wie Ratten in einem Labyrinth wirken –, dann merkt man es an der bedrückend wuchtigen Atmosphäre. Das ist ein Nebeneffekt dessen, dass jeder Schauplatz (das Morehouse College; ein so nur im Film existierender Jazzclub in einer unvorstellbar trostlosen Unterwelt; das Leben von Malcolm X; der Innenhof einer Sozialsiedlung; ein Häuserblock in Brooklyn; ein Viertel in der Bronx) bei Lee zu einem metaphorisch aufgeladenen Raum wird.

In diesem Sinne ist Lee das extreme Gegenteil von Hitchcock oder Scorsese, die beide mit einem Raum beginnen und sich von dort nach draußen arbeiten. Bei Lee wird jede Küche, jede Straße in der Nachbarschaft, jedes Büro zu einem Schlachtfeld, und das Spezifische der physikalischen Welt löst sich im ideologischen Äther auf. Man könnte sagen, seine wundervolle Version von Roger Guenveur Smiths Huey P. Newton Story, eine Ein-Mann-Show auf einer leeren Bühne, die vom Filmemacher mit historischen Bildern aufgeladen wird, sei der ultimative Spike-Lee-Film.

Produkte der Umgebung

Es gibt einen untypischen Moment in »Jungle Fever«, als Lee plötzlich auf Flipper (Wesley Snipes) schneidet, der an einer heruntergekommenen Straßenecke in Harlem steht, eine Zehntelsekunde, bevor er sich mit ein paar zwielichtigen Gestalten berät, weil er auf der Suche nach seinem crackhead-Bruder ist. Man fühlt seine Anspannung, seine Missbilligung und seine verärgerte Konfusion durch die Art, wie er herumrudert, während sein Körper steif ist.

Es ist ein ungewöhnlicher Moment, weil plötzlich der Schauspieler das Heft in der Hand hat, und sei es auch nur für ganz kurze Zeit. Der gesamte Harlem-protzige-Architekturfirma-Bensonhurst-Sozialdruck, den Lee aufgebaut hat, scheint auf Flipper niederzubrechen, so wie auf Edward Nortons verurteilten Drogendealer zehn Jahre später in »25th Hour«, wenn auch dort mit viel mehr Großspurigkeit und Selbstherrlichkeit.

Trotz einiger furchtbarer Stellen ist »Jungle Fever« Lees erschütterndster Film – vielleicht genau aus dem verrückten Grund, dass der Film am stärksten von allen mit ineinander greifenden Themen überladen ist. Das von Tim Robbins und Brad Dourif verkörperte Klischee-Yuppie-Team, die ita­lienischen Familienszenen (Anthony Quinns Darstellung als vermeintlich prototypischer italienischer Vater – »Your mother was a real woman!« – wirkt so wie ein Betriebsunfall in einer Olivenölfabrik), die in der Luft hängenden Gespräche zwischen Lee und Wesley Snipes – all das wäre für sich genommen uninteressant, aber im Spannungsfeld, das Lee aufbaut, in der Art, wie diese Szenen einander konterkarieren, verstärken und wie sie aufeinanderprallen, geben sie dem Film eine bemerkenswerte Fülle und soziale Dreidimensionalität.

Wie in »Do The Right Thing«, in dem es ähnlich schreckliche Momente gibt, die aber nichtsdestotrotz als wichtige Zahn­räder in der gesamten Maschinerie fungieren – wie Lees und John Turturros Gespräch über »Nigger« –, erreicht Spike Lee etwas, das im US-amerikanischen Kino ganz selten ist: die Illustration des Ausmaßes, in dem die Menschen ein Produkt ihrer Um­gebung sind.

Das ist ein großer Schritt über den Fake-Individualismus vieler amerikanischer Filme hinaus. Flipper und Angie (Annabella Sciorra) sind die Chiffren im Zentrum von »Jungle Fever«, umgeben von einer Bandbreite wesentlich lebendigerer Charaktere: Ossie Davis’ verstörend strenger, separatistischer, alttestamentarischer Vater und Ruby Dees pathologisch affektierte Mutter, John Turturros Bonbonladenbesitzer mit Heiligenschein und Samuel L. Jacksons erschreckender crackhead.

Was wie eine künstlerische Fehlkalkula­tion aussieht, erscheint bei näherem Hinsehen als ziemlich gute dialektische Stra­te­gie. Lee spricht zu Angehörigen der Mittelklasse wie Flipper (und sich selbst vermutlich), die den Status quo bewahren, weil sie die widerstreitenden Stimmen in ihren Ohren nicht wahrhaben wollen, ebenso wie er in »Do The Right Thing« zu Faulpelzen wie Mookie spricht, die versuchen, sich durch die Welt treiben zu lassen, und letztlich aus schierer psychischer Erschöpfung handeln.

Als Mookie die besagte Mülltonne durch das Fenster wirft, wird er von seinen Freunden aus der Nachbarschaft angefeuert, wie Jonathan Rosenbaum richtig angemerkt hat, aber er setzt auch eine sinn- und hirnlose Geste, die das Resultat von so viel Hitze, Ärger und Maulheldentum ist. Es scheint angemessen, dass die Figuren durch die Konfusion, die ihre Welt ausmacht, kleiner erscheinen (war das der Grund für Wim Wenders’ lächerlichen Einwand, Mookie sei »nicht heldenhaft genug«?) – eine Konfu­sion, die in Ruhe zu analysieren sie keine Zeit haben.

In seinen weniger erfolgreichen Arbeiten (und leider neigen seine neueren Filme dazu, in diese Kategorie zu fallen) gehen die großen Momente in einem Meer starrsinniger ästhetischer Entscheidungen fast unter. Da Lee anfällig dafür ist, jeden Augenblick mit der gleichen Gewichtung zu filmen und ohne jeden Rhythmuswechsel, kann seine übertriebene Klarheit nach hinten los gehen, wenn es zu wenige zentrale Punkte gibt.

»Clockers« ist ein unbefriedigender Film, weil die Technik von Richard Prices Roman, völlig in das Geschehen einzutauchen, Lees ästhetischen Stärken zuwiderläuft. Das ist der erste seiner Filme, der tatsächlich dem alten Modell von sozialem Bewusstsein folgt, in dem jede Figur nicht eine soziale Größe repräsentiert, sondern einen unterschiedlichen symbolischen Aspekt des Drogenproblems-im-Ghetto.

Lee als Regisseur einer intensiven Studie dieses Lebens ist in etwa eine ähnlich gute Wahl wie Richard Attenborough. Aber es gibt Momente voller Leidenschaft, insbesondere die Montage, in der ein langsames Tracking weg von Strike (Mekhi Phifer), der mit seiner Modelleisenbahn spielt, gegen-geschnitten wird mit erschreckend direkten Shots von realen crackheads, die scoren und high werden.

Es ist nichts gravierend falsch an »Malcolm X«, sieht man davon ab, dass Lee viel Zorn und Dramatik aus der Autobiografie getilgt hat, um uns eine gute, solide, würdige Tour durch das Leben seines Subjekts zu liefern. (Die großartigsten Momente des Films bewegen sich mit dem langsamen und getragenen Rhythmus von Denzel Washingtons und Angela Bassetts makellos gespieltem gegenseitigen Respekt.) Seit sein Ruhm langsam verblasst, wird Lees Kino von einer bleischweren Selbstherrlichkeit geplagt und von einer zunehmend systema­tischen Qualität des Filmemachens selbst (Oliver Stone, ein anderer professioneller Provokateur, hat ähnliche Probleme) – eine tödliche Kombination, die großformatige Projekte wie »He Got Game« und »25th Hour« ebenso zum Kentern bringt wie schrille, kakofonische »Guerilla«-Produktionen, etwa der wahrlich furchtbare Film »Bamboozled« (2000) und der noch schlimmere »She Hate Me« (2004).

Selbstachtung und Schutz

Vor neun Jahren schien »Get On The Bus« einen Wendepunkt für Lee zu markieren, einen entscheidenden Schritt hin zu einem gültigen, ausgewogenen Gefühl für uplifting und zu einem größeren Vertrauen in seine Schauspieler, weg von der fanatischen Kontrolle.

Lee findet in »Get On The Bus« unzählige Wege, die Gesichter seiner großartigen Schauspieler in ihrer besorgten Nachdenklichkeit zu erforschen, bis zu einem Punkt, an dem der Film eine lyrische Schönheit annimmt und bereits eine einfache Großaufnahme des wunderbaren Charles Dutton wirkliches Gewicht bekommt.

Man hat ein paar lächerliche Dinge über diesen lebhaften, trotzig altmodischen Film geschrieben, der weit davon entfernt ist, eine angeblich intendierte Hymne an Louis Farrakhan zu sein. Der Million Man March hat hier nicht ideologische, sondern symbo­lische Bedeutung: Die einfache und erfreuliche Tatsache, dass sich eine Million afro­amerikanischer Männer an einem Ort versammeln, ist es, die die Figuren des Films motiviert, in den Bus nach Washington zu steigen, und das Gefühl der Gemeinschaft spiegelt sich in den Schauspielern, die ihre dankbaren Rollen enthusiastisch annehmen.

Die Zusammensetzung der Gruppe ist Zweiter-Weltkrieg-Bombercrew-Standard: Ein alter Versager, ein junger, aufstrebender Schauspieler, ein sanfter Polizist, ein geläutertes Gangmitglied, ein homosexuelles Paar, ein stiller Moslem, ein republika­nischer Geschäftsmann, ein entfremdeter Vater, der seinen kriminellen Sohn wieder trifft, an den er per Gerichtsbeschluss gekettet ist, ein jüdischer Aushilfstaxifahrer, ein angehender Filmemacher (»Spike Lee Jr.«, wie ihn jemand nennt) und der Busfahrer (als Sprachrohr) handeln nach und nach offenbar jeden Konflikt ab, den es aktuell in der afroamerikanischen Community abzuhandeln gibt.

Aber wie immer umgeht Lee alle defini­tiven Antworten jenseits einsamer Selbstachtung. Es gibt einen schmerzlich schönen Augenblick in der Mitte des Films, als der Polizist, dessen Vater von Mitgliedern einer Gang getötet wurde und der im schwarzen Ghetto Dienst schiebt, dem Mordgeständnis des ehemaligen Gangmitglieds zuhört. Ein Moment, der durch die Gemeinschaft auf dieser Busfahrt möglich wird. Der Cop dreht den Spieß um und sagt, er werde ihn verhaften müssen, sobald sie nach Los Angeles zurückkehren. Lee schneidet von der Konfrontation weg, hin zum Mond, der durch die Windschutzscheibe zu sehen ist. Er wendet sich nicht vom Konflikt ab, sondern dem traurigen Fluss der Zeit zu.

»Get On The Bus« ist wahrscheinlich sein am tiefsten empfundener Film seit »Joe’s Bed-Stuy Barbershop« (1982), aber er hat immer noch die schützende Schicht seiner früheren Filme. Es bleibt ein bewegender Film, aber letztlich hat man den Eindruck, sein altmodisches uplifting sei nur eine weitere strategische Entscheidung, die für den Anlass getroffen wurde. In den Jahren seither hat Lee langsam sein Publikum verloren.

Wie Oliver Stone ist er mit einem selt­samen Dilemma konfrontiert: Was macht man als Provokateur, wenn die Provokationen von der Populärkultur längst absorbiert worden sind? Welche neuen Wege kann man gehen, um die Aufmerksamkeit des Publikums wiederzugewinnen? Alles in allem erscheint Lee als künstlerisch zu engmaschig, um neue Begeisterung auszulösen, jetzt, wo der erste Strom versiegt ist. So sehr ich seine Fähigkeiten als Dialektiker bewundere, muss ich sagen, dass sie nicht viel von Nutzen sind, wenn die Präsentation seiner Themen so bleischwer ist wie in »Bam­boozled« oder so hochtrabend wie in »25th Hour«.

Die durchdringendsten Momente in Lees komplexem, einzigartig bizarrem Oeuvre sind die kleinen, instinktiven. Es gibt so einen Augenblick gegen Ende von »Crook­lyn«, als drei der Kinder eine öffentliche Treppe hinaufgehen. Zwei von ihnen halten einander an der Hand, während das dritte hinterhertrödelt. Sie singen gedankenverloren ein Lied, das sanft in einer Harmonika in Terence Blanchards score widerhallt. Als sie stehen bleiben, sprechen sie darüber, was sie zur Beerdigung ihrer Mutter anziehen sollen.

Herzzerreißend ist der hohe, schräge Kamerawinkel, der die Kinder in einer ausgedehnten Betonlandschaft platziert, ein Detail, das direkt aus der Erinnerung des Filme­machers zu kommen scheint. Und herzzerreißend ist auch das stoische Stapfen die Stiegen hinauf, das Gefühl einer Last, die unter allen Umständen mit Würde getragen werden muss.

Und es gibt zwei erhellende Momente in »Jungle Fever« und »Get On The Bus«, beinahe identisch. In »Jungle Fever« erlebt man die niederschmetternde Szene, in der Snipes und Sciorra auf der Kühlerhaube eines Autos herumalbern. Lee macht einen kurzen Schnitt zu einem Apartmentfenster, von dem aus man auf die Straße blickt. Man sieht nicht, wer dort wohnt, und die Einstellung ist sofort wieder vorüber, aber wenn Lee wieder zurückschneidet auf sein Paar, wartet man eigentlich nur auf das Heulen von Polizeisirenen.

In »Get On The Bus«, in der zögerlichen, aber echten Kameraderie einer Bar in Mem­phis (durch einen wunderbaren Augenblick, in dem Ossie Davis und der Barbesitzer die color line durch die gemeinsame Begeisterung für Rodeo überwinden), zeigt Lee in einem fast nicht wahrnehmbaren Schnitt das Gesicht eines unbekannten weißen Mannes, der einfach nur vor sich hinstarrt. Wir sehen nicht, was hier angestarrt wird, darum geht es aber auch gar nicht.

Denn in beiden Fällen wird eine ganze La­dung von Ärger und Angst mitten ins Herz des Films injiziert. Während Augen­blicken wie diesen ist unter der Oberfläche der queck­silbrigen Intelligenz und der stoischen Haltung, die wir kennen, ein anderer, verletzlicherer Spike Lee zu spüren. Die Frage ist: Will er sich wirklich den starrenden Gesichtern und den offenen Fenstern stellen, die es überall in der US-Kultur gibt?

Anmerkungen

(1) Zoot suits waren der letzte Modeschrei für schwarze Stadtbewohner in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts: Anzüge mit gepolsterten Schultern und eng zulaufender Hose, oft in knallig bunten Farben.

(2) Oprah Winfreys Talkshow, seit 1986 ungebrochen populär in den USA, dient oft als Forum für durchaus kontroverse Diskussionen zwischen Frauen.

Übersetzt von Andreas Ungerböck. Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Andreas Ungerböck / Gunnar Landsgesell (Hg.): Spike Lee. Film: 14. Bertz+Fischer Verlag, Berlin 2006. 304 S., 242 Fotos/Bildsequenzen, 25 Euro. Das Buch ist dieser Tage erschienen.