Spitzbuben unter uns

Über die Demonstrationen gegen den CPE und die Beteiligung von Banden aus den Banlieues. Jungle World dokumentiert einen Text aus dem Umfeld der anarchosyndikalistischen CNT

Die Jugendlichen, die für die Mehrzahl der Gewalttätigkeiten auf der Pariser Demonstration vom 23. März (inclusive der Gewalttätigkeiten gegenüber anderen Demonstranten) verantwortlich sind, haben oftmals irrige Analysen hervorgerufen. Nicht einmal die Bezeichnung für sie ist klar. »Jugendliche aus den Banlieues«? »Jugendliche mit Migrationshintergrund«? »Casseurs« (etwa: Chaoten)? »Abschaum«? In Ermangelung eines besseren soll in der Folge der Ausdruck »lascars« (et­wa: Spitzbuben) den anderen vorgezogen werden.

Eine kollektive Macht …

Die Gewalt der Lascars kann als Ausdruck einer kollektiven Macht verstanden werden. Die Banden, die sich in den »Pro­blem­vier­teln« auf einer ähnlichen Basis zusammenfinden, bestehen hauptsächlich aus Jugend­lichen, die zahlreichen sozialen, geographischen, schulischen usw. Ausschlüssen unterworfen sind. Ihr Zusammenschluss in gewalttätigen Banden ist ein Mittel zu existieren, eine Art Status in den Vierteln zu erreichen. Ihre Gewalt richtet sich vor allem gegen jene, die sich zu »Gegnern« der Bande erklären: Polizei, nervende Nachbarn usw. Die Stärke der Lascars resultiert hauptsächlich aus ihrer Anzahl und ihrer Fähigkeit, zusammen zu agieren, aus ihrer »Solidarität« (ausschließlich untereinander) und aus deren Gegenstück, dem Gesetz des Schweigens und der Verpflichtung, der Gruppe zu folgen.

Die Unmöglichkeit für die Polizei, sie in Schranken zu halten, die Angst, die sie künftig auch außerhalb der Grenzen ihres Viertels hervorrufen, und die Möglichkeit, sich bei Gelegenheit (vorwiegend anlässlich von Schüler­demonstrationen) in großen Gruppen zu konzentrieren, erlauben es ihnen, als eine kollektive Macht von wachsender Stärke zu erscheinen: eine autonome und gewalttätige soziale Gruppe, die fähig ist, dem Staat und der Polizei die Stirn zu bieten und Schrecken zu verbreiten. Isoliert und mit dem Wunsch, sich zu integrieren, ist der Lascar eine Quelle des Misstrauens. In der Gruppe und gestützt auf eine gewalttätige Praxis, wird er eine Quelle der Angst für all jene, deren Weg er kreuzt, in der Lage, Regierungen zittern zu lassen und Polizeieinheiten, die CRS, zum Rückzug zu bewegen. In verschiedener Hinsicht erinnern autonome Gruppen, die zu einer kollektiven Gewalt in der Lage sind, die sogar die Kapazitäten der Repressivkräfte übersteigen kann, an die historische Konstitution des Proletariats als potenziell revolutionäre Kraft. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied.

… ohne positive Perspektive

Dort, wo die Gewalttätigkeit des Proletariats des 19. und 20. Jahrhunderts sich in der Perspektive eines um die Fabrik zentrierten Kampfs gegen das Unternehmertum oder, für die fortgeschrittensten, eines Kampfs gegen den Staat in der Perspektive einer kollektiven Eroberung der Produktionsmittel (Kollektivierung der Fabriken, des Bodens) herausbildete, hat die Gewalt der Lascars ihnen keine Auswege geschaffen. Das Ursprungsterrain der Gewalt ist nicht mehr die Fabrik, der Arbeitsplatz, sondern der Lebensbereich, wo die Gewalt vor allem gegen die direkte Nachbarschaft ausgeübt wird. Der gewalttätige Ausdruck entwickelt sich nicht mehr im Kontext sozialer Kämpfe gegen die kapitalistische Ausbeutung, sondern genügt sich selbst. Als Gruppe, die ihre Macht zeigen will, wenden die Lascars die Gewalt schließlich gegen einen Gegner von Format: den Staat. Der Staat wird nicht als Verteidiger der Bourgeoisie anvisiert, sondern eher als rivalisierende Macht. Die antistaatliche Gewalt der Lascars beschränkt sich nicht auf Aktionen gegen die Polizei, sondern nimmt alle Teile des Staats ins Visier, inclusive der lebenswichtigen öffentlichen Dienste, die dieser unterhält: Feuerwehr, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, soziokulturelle Zentren. Meist treffen diese Angriffe vor allem die Bevölkerung des Vier­tels und verstärken umso mehr den sozialen und geografischen Ausschluss.

Die Lascars sind nicht Träger eines positiven Projekts. Lediglich einige vage Forderungen nach »Gerechtigkeit in der Banlieue«, gegen den Rassismus und gegen die polizeiliche Will­kür tauchen auf, aber ohne wirklich mögliche Vorstellungen von einem Ausweg. Die Vorwürfe gegen den Staat sind Teil eines überaus konfusen ideologischen Gemenges, dessen hervorstechendste Charakterzüge der Sexismus (die Banden sind vorwiegend männlich, auch wenn einige Mädchen ihnen folgen können, ohne wirklich an den Gewalttätigkeiten beteiligt zu sein), die Homophobie und der Konsumismus (siehe die Bedeutung der Marken bei der Kleidung) sind. Manchmal kann Rassismus das Arsenal vervollständigen, aber der Hauptzug bleibt das Misstrauen gegenüber denen, die nicht ihre Vorgehensweise teilen. Die generelle Ablehnung des politischen Diskurses, von rechts bis links, wird oft von einem generellen Fehlen politischer und gewerkschaftlicher Kultur begleitet.

SA in HipHop-Hosen?

Einige wollen in den Lascars Faschisten sehen und ziehen eine Parallele zur SA in den zwanziger und dreißiger Jahren, die auf vor­sätzliche Gewalt gegen die Arbeiterbewegung spezialisiert war. Aber die Gewalt der Lascars richtet sich nur sporadisch gegen die sozialen Bewegungen. In den gewerkschaftlichen oder studentischen Demoblöcken versuchen die Lascars vor allem, sich eher isolierte (oder als solche identifizierte) Ziele vorzunehmen, als freiwillig die Gesamtheit einer Demonstration als solche zu terrorisieren. Solange sie sich in kleinen Gruppen bewegen, suchen sie keine direkte Konfronta­tion mit den Ordnerdiensten der gewerkschaftlichen Umzüge. Ihre Haltung besteht eher in einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber der Gewerkschaftsbewegung, die in Aggressivität umschlagen kann, wenn sie ihre Überlegenheit zu beweisen suchen. Der Vergleich mit der SA fällt flach, selbst wenn die Präsenz der Lascars, die Demonstranten angreifen, unleugbar ein Demobilisierungsfaktor ist, der die Mobilisierungen aus Angst zurückgehen lässt.

Gesteuert von der Polizei?

Wegen der Gewalt, die sie gegen die Demonstranten ausüben, und wegen der Auswirkungen auf die Mobilisierung scheint die Anwesenheit dieser Banden der Macht zu passen. Einige ziehen daraus, ein wenig voreilig und einer guten Verschwörungstheorie würdig, den Schluss, dass diejenigen, die Demonstranten angreifen, von der Polizei bezahlt oder gesteuert seien. Die Theorie hat den Vorteil, sich auf billige Weise die Illusion einer Einheit im Denken zwischen linken oder linksradikalen Demonstranten und den Lascars zu erhalten.

Unglücklicherweise würden die letzt­genannten, infolge polizeilicher Manipulationen, »gegen ihr Lager« spielen und anstelle der CRS das miese Geschäft besorgen. Die Beobachtung der Vorgehensweise der Banden und ihrer quasi alltäglichen Gewalt, Bedingung und Träger ihrer Affirmation, legt nahe, dass sie keineswegs bezahlt oder aufgestachelt werden müssen, um ihre Gewalt, egal gegen welches Ziel, zu demons­trieren. Die Gewalt der Banden gegenüber Personen, die als Zivilpolizisten verdächtigt werden, trägt auch nicht zur These des Kom­plotts bei.

Eine revolutionäre Avantgarde?

Das Niveau des politischen Bewusstseins der Lascars ist sehr niedrig. Die Gruppensolidarität führt sie oft dazu, dem Schlimmsten unter ihnen zu folgen. Ein Mitglied der Bande wird nach einem Diebstahl angepöbelt? Dann ist es die ganze Ban­de, die den attackiert, der sich entgegenstellt. Ein Bandenmitglied be­ginnt, den Laden eines Händlers zu zerstören? Der Herdentrieb wird dafür sorgen, dass sich Dutzende Mitläufer ihm anschließen. Ohne politisches Bewusstsein und mit einer Gewalt, die sich ohne Ziel au­ßer einer Bestätigung der eigenen Macht ausdrückt, ist man ziemlich weit entfernt von einem Gebrauch der Gewalt, wie sie im Zentrum der Arbeiterkämpfe erscheinen konnte. Man muss aber auch nicht glauben, dass alle Lascars völlige Idioten sind. Der kulturelle Ausschluss und der schulische Misserfolg hinterlassen selbstverständlich ihre Spuren, und das kollektive Verhalten lässt manchmal eher an eine Horde von Hyänen als an das Resultat einer menschlichen Organisation denken. Aber die Mitglieder dieser Banden sind ebenso zu Reflexionen fähig, im Bewusstsein, dass ihre Stärke den Staat beunruhigt. Einige Lascars fordern bewusst, die Verantwortlichen für die gegenwärtige soziale Lage herauszuforden. Merken wir an, dass das Unternehmertum für sie keinen Teil der ausgemachten Feinde darstellt.

Die Lascars und wir…

Die Anwesenheit der Banden in den sozialen Bewegungen (insbesondere in den Jugendbewegungen) mit der Gewalt, die sie ausdrücken, stellt ein konkretes und unmittelbares Problem für die Sicherheit der Demonstration dar, zumindest in der Pariser Region. Die Hoffnung, an ihr Bewusstsein appellieren zu können oder unter ihnen ein politisches Bewusstsein zu propagieren, scheint in der gegenwärtigen Situation ziemlich abwegig zu sein: Für die Lascars, die sich permanent in einem realen Kräftemessen befinden, mangelt es den Generälen ohne Armee aus den linksradikalen oder libertären Organisationen an Glaubwürdigkeit, und die Vernetzung von Aktivisten in den »Problemvierteln« ist weit davon entfernt, ausreichend zu sein. Die islamistische reli­giö­se extreme Rechte, die ein Aktivistennetz besitzt, das eher geeignet wäre, die Lascars anzuziehen, hat es bislang nicht geschafft, sie zu strukturieren und zu benutzen. Sollte eine solche Fusion zustande kommen, wäre der Ausdruck »SA in Hiphop-Hosen« nicht mehr wirklich falsch.

Wo gewalttätige Aktivisten und Lascars in ähnlich großer Zahl sind, hat man gesehen, dass die Banden sich eher den entschlossensten Demonstranten anschließen, wie bei den Zusammenstößen mit der Polizei in Rennes oder bei denen auf der Place de la Nation am 18. März. Auf Situationen wie bei der Demonstration am 23. März, wo die Banden in großer Zahl anwesend sind und die Demons­tranten angreifen, müssen wir uns vorbereiten. Sind wir nicht fähig, für die Sicherheit der Demonstrationen zu sorgen, kündigt sich ein Niedergang der Bewegung an.

Der Versuchung einer direkten Konfrontation ist zu widerstehen, ebenso wie der einer Zusammenarbeit mit der Polizei, die langfristig zu einer totalen Identifizierung von sozialer Bewegung und gewerkschaftlich-polizeilicher Bewegung führen und die Banden dazu bringen wird, sich bewusst mit dem Ziel zu organisieren, die Umzüge zu zerschlagen; dies würde die Aussicht darauf trüben, dass das Bewusstsein der Interessengleichheit zwischen Lascars und sozialer Bewegung entsteht.

Der hier dokumentierte Text wurde übersetzt und redaktionell gekürzt. Er erschien anonym und lässt sich unter www.mondialisme.org/article.php3?id_article=646&?id_rubrique=71nachlesen.