»Aber der Beste war Overath …«

In Costa Rica freut man sich auf die Fußball-WM. Wie sehr, erfuhr christian helms an Ort und Stelle

Die Fläche Costa Ricas ist kaum größer als die Niedersachsens. Trotzdem hat sich die Auswahl der kleinen Republik mit vier Millionen Einwohnern bereits zum dritten Mal für die Endrunde einer Fußballweltmeisterschaft qualifizieren können. Nun hofft man auf einen ähnlichen Erfolg wie bei der WM 1990 in Italien, als der Nationalelf auf Anhieb der Sprung ins Achtelfinale glückte. Rund zwei Monate vor dem Turnierbeginn ist auch beim ersten Gruppengegner der deutschen Mannschaft die Euphorie um die »Mundial« allgegenwärtig.

Ob Kreditkarte oder Burrito – es gibt in diesen Tagen kaum ein Produkt, das sich nicht mit Hilfe des bunten WM-Logos und einer schwarz-rot-goldenen Fahne noch ein bisschen besser vermarkten ließe. »Kömman disfrruten viajenn«, lautet beispielsweise der bizarre Slogan, mit dem die Fast-Food-Kette Burger King derzeit ihr WM-Gewinnspiel bewirbt. Den Sinn muss sich der deutsche Betrachter dabei erst mühsam erarbeiten. In die spanischen Wörter »disfrutar« (genießen) und »viaje« (Reise) wurden ganz offensichtlich die typischen deutschen Endungen eingearbeitet. Das Wort »kömman« schließlich verfügt über einen dieser sonderbaren Umlaute und hat augenscheinlich einzig die Aufgabe, das Erscheinungsbild eines deutschen Satzes zu vervollständigen.

Ist das die späte Rache für die »Los wochos«-Kampagne, mit der hierzulande vor einigen Jahren der berühmte Burgerbräter mit dem gelb-goldenen »M« darauf aufmerksam machte, dass zwischen seinen Brötchenhälften vorübergehend auch scharfe Soße zu finden sein würde? Vom Sombrero bis zum Riesenkaktus wurden damals hemmungslos sämtliche Mittelamerika-Klischees verbraten – im wahrsten Wortsinne –, so dass wir noch gut bedient damit sind, auf dem Plakat in Costa Rica nicht ein bayrisches Original mit Lederhosen und Bierkrug zu finden.

Auch die Zeitungen greifen natürlich jede Information, die auch nur entfernt einen Bezug zur WM haben könnte, dankbar auf. Dass Franz Beckenbauer kein Thema unkommentiert lässt, hat sich dabei offensichtlich bis nach San José herumgesprochen. So beschäftigte sich La Nacion, die etwas seriösere der beiden großen Tageszeitungen Costa Ricas, nach der deutschen 1:4-Nieder­lage in Florenz ausgiebig mit dem Auftaktgegner und zitierte fast täglich den bekanntesten deutschen Fußballer aller Zeiten in einem Extra-Kasten zur großen Krise des WM-Gastgebers. »El Kaiser habla.« Der Kaiser spricht. Gerne und viel, vollkommen richtig.

Doch so sehr man zuweilen geneigt ist, die »Lichtgestalt« des deutschen Fußballs zu verspotten, so beeindruckend ist es, wie begeistert auch heute noch Menschen in den verschiedenen Ecken der Welt die fußballerischen Fertigkeiten Franz Beckenbauers beschreiben. In einer Bar in Nicoya, im Nordwesten des Landes, hatte ich eines Abends das Vergnügen, mich mit einem älteren Mann zu unterhalten. Über den riesigen Fernsehschirm des Lokals flimmerte ein Spiel des Concacaf-Pokals, des dortigen Äquivalents zur europäischen Champions League. Deportivo Saprissa, der Club aus der Hauptstadt San José, lag bereits mit 0:2 zurück. Entsprechend ruhig war es, und entsprechend schlecht lief der Bierverkauf.

Zunächst beklagte der Mann, dass die billigen Arbeitskräfte aus dem armen Nicaragua ins Land drängten und die Löhne verdürben. Er rühmte, dass Costa Rica vor fast 60 Jahren das Militär abschaffte und das Land seither in Frieden existiere. Er schwelgte in Erinnerungen an große Fußballmannschaften und zählte zu meinem Erstaunen fast die komplette deutsche Elf von 1974 auf, wenngleich in sehr eigenwilliger Aussprache. Ich weiß bis heute nicht, ob er wirklich »Georg Schwarzenbeck« sagte. »Ich liebe Deutschland wegen Franz Beckenbauer«, lautete sein feierliches Fazit. »Aber der Beste überhaupt war Overath …« Aus der heutigen Mannschaft hingegen kannte er nur Michael Ballack, doch von dem war er nicht besonders angetan. Selten hat es jemand besser auf den Punkt gebracht.

Deportivo Saprissa, die Mannschaft in den violetten Trikots, gewann die Partie im Übrigen noch mit 3:2 und zog ins Halbfinale ein. Die Jubelschreie der Anwesenden gaben einen Eindruck davon, wie es sich im Juni in Costa Rica anhören könnte, falls das Team der Ticos – so nennen sich die Einwohner des kleinen Landes – ein ordentliches Turnier spielen sollte. Dass Siege hier gänzlich anders gefeiert würden als bei uns, hatte ja auch niemand ernstlich erwartet. Einige gravierende Unterschiede zum deutschen Fußballempfinden gibt es aber dennoch.

Die costaricanische Liga wird mit großem Interesse verfolgt; es ist ein aufregender Wettbewerb, in dem die großen, reichen Vereine aus dem Valle Central sich der nicht chancenlosen nationalen Konkurrenz erwehren müssen. Gleichzeitig, so wirkt es, schaut man aber immer wieder sehnsüchtig nach Europa, wo noch größere, reichere Vereine daheim sind. Die »Liga de Campeones de la Uefa« erfreut sich größter Beliebtheit in ganz Mittelamerika, wenngleich die Live-Übertragungen ob der recht ungünstigen Sendezeit (13.45 Uhr) vergleichsweise wenige Zuschauer erreichen. Das abendliche Highlight, der Zusammenschnitt, umso mehr.

»Man kann den Fußball hier und in den europäischen Top-Ligen nicht so direkt miteinander vergleichen.« Paulo Wanchope (29) ist einer der wenigen costaricanischen Fußballprofis, denen es gelang, eine Karriere in Europa zu machen. Nach achteinhalb Jahren in England, Spanien und Katar ist der Rekordnationaltorjäger im Winter zu seinem Heimatclub CS Herediano zurückgekehrt und weiß sehr gut um die Unterschiede. »Die Spielflächen beispielsweise sind bei uns viel schlechter als in Europa, das ist teilweise ein komplett anderes Spiel in Costa Rica.« In Deutschland wird man zwar am nächsten Dienstag ähnlich sehnsüchtig das Champions-League-Halbfinale zwischen dem AC Mailand und dem FC Barcelona verfolgen, jedoch gehört aus der costaricanischen Perspektive auch der FC Bayern München noch zu diesem erlesenen Club.

Das Bewusstsein, lediglich eine kleine Nebenrolle im Weltfußball zu spielen, lässt die Ticos die Weltmeisterschaft deutlich entspannter angehen, als es im von Wohnsitzdebatten und Torwartdiskussionen ausgelaugten Deutschland möglich wäre. Das ist es nicht mehr, nachdem Helmut Rahn 1954 aus dem Hintergrund schießen musste. Nicht mehr, nachdem Wolfgang Overath 1974 der Beste überhaupt war. Und nicht mehr, nachdem Andreas Brehme 1990 alle störenden Gedanken aus seinem Kopf verbannen konnte, um präzise das Tor zu schießen.

Ohne die Verpflichtung, den Weltpokal unbedingt gewinnen zu müssen, und ohne das Wissen, dass das Ausscheiden in der Vorrunde zwangsläufig eine nationale Krise auslösen würde, kommen die Costaricaner zur Endrunde. Natürlich mit sportlichem Ehrgeiz und dem klaren Ziel, das Achtelfinale zu erreichen – aber sie kömman eben auch, um die viajenn zu disfrruten …