Spiel auf Zeit

Auch der bolivianische Präsident Morales muss sich mit sozialen Protesten auseinandersetzen. Er will mit einer neuen Verfassung die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. von benjamin beutler

Ein nationaler Feiertag und nicht ein religiöses Fest sei der geeignete Zeitpunkt für die Veröffentlichung des Dekrets über die Nationalisierung der Erdgasressourcen, sagte Regierungssprecher Alex Contre­ras. »Einige Wochen« sollen sich die Bolivianer noch gedulden, denn die Nationalisierung »verdient Planung«. Die Veröffentlichung des Dekrets war für das Osterwochen­ende erwartet worden.

Viele Aktivisten aus den sozialen Bewegungen dürften die Verschiebung als weiteren Beweis dafür sehen, dass die Regierung gar nicht beabsichtigt, ihre im Jahr 2003 in der »Oktoberagenda« formulierten Pläne zu erfüllen, sondern auf Zeit spielt. Neben der Verstaatlichung der Bodenschätze erwar­ten sie von Präsident Evo Morales vor allem eine Landreform und eine grundlegende politische Neu­ordnung, eine Verfassung, die die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen garantiert.

Geduld haben viele Bolivianer nicht mit ihrem neuen Präsidenten. Anfang April streikten die Busfahrer gegen geplante neue Steuern, in der vergangenen Woche traten die Beschäftigten des Gesundheitssektors zwei Tage in den Ausstand, um eine Lohnerhöhung von zehn Prozent zu erkämpfen. Große symbolische Bedeutung hat der Arbeitskampf bei der Fluglinie Lloyd Aereo Boliviano. Die Beschäftigten fordern die Verstaatlichung des hoch verschuldeten Unternehmens, das die Löhne nicht mehr pünktlich auszahlen kann. Sie blockierten mehrere Flughäfen, und in Cochabamba, dem Sitz der Firma, traten Staatsangestellte in einen Solidaritätsstreik. Die Regierung will die Fluggesellschaft nicht verstaatlichen, weil sie dann auch die Schulden übernehmen müsste.

Bis zum vorgesehenen Inkrafttreten der neuen Verfassung im August 2007 müsse er nun einmal mit den geltenden »neoliberalen Gesetzen« arbeiten, rechtfertigt sich Morales. In der Verfassungsdebatte gehe es darum, »Bolivien neu zu gründen«. Die verfassunggebende Versammlung »soll unbegrenzte Macht haben«, auch sein Amt stehe gegebenenfalls zur Disposition: »Wenn ich zurücktreten muss, dann überlasse ich dieser Instanz meinen Posten.«

Auf einem Kongress der Indigena-Frauenorganisation Bartolina Sisa, benannt nach der Frau Tupac Kataris, eines bedeutenden antikolonialen Rebellen des 18. Jahrhunderts, sagte Morales den 500 Zu­hörerinnen: »Die verfassunggebende Versammlung soll bewirken, dass das Volk an die politische Macht kommt.« Es waren vor allem die Nachkommen der durch die europäischen Kolonisatoren ausgegrenzten Bevölkerung, die im Dezember vergangenen Jahres Morales zum Präsidenten eines delegitimierten und finanziell fast handlungsunfähigen Staates wählten. Weiterhin marginalisiert, fordern sie, dass er ihnen gesellschaftliche Gleichberechtigung und politische Mitbestimmung verschafft.

Am 2. Juli soll die verfassunggebende Versammlung gewählt werden. Umstritten ist bereits der Wahl­modus. »Ein Bürger, eine Stimme, für uns ist das eine Sache des herkömmlichen Systems der liberalen und demokratischen Repräsenta­tion. Damit sind wir nicht einverstanden«, empört sich Miguel Zubieta, Generalsekretär der Gewerkschaft der Minenarbei­ter Boliviens. Ein anderer Wahlmodus sei nötig, der sowohl den indigenen Tradi­tionen entspreche als auch den Gewerkschaften eine direkte Teilnahme an der verfassunggebenden Versammlung via Quotenregelung garantiere. Da die Regierung diese Forderung nicht erfüllen will, sei es ein Fehler, »mit dem Glück des Volkes zu spielen« und die Hoffnung zu nähren, die neue Verfassung werde einen grundlegenden Wandel einleiten.

Viel Zeit für Refomen will Zubieta dem Präsidenten nicht einräumen, er verweist auf den 1985 gewählten Präsidenten Paz Estensoro, der für die Durchführung des historischen Dekrets 21 060, das Boliviens wirtschaftliche Liberalisierung einleitete, nur einen Monat benötigte. Das ging zwar in die falsche Richtung, doch nach Ansicht Zubietas hatte Estensero zumindest »den politischen Willen und die Entscheidungskraft«, die Morales vermissen lasse.

Für Oscar Olivera, der im Jahr 2000 am erfolgreichen Kampf gegen die Privatisierung der Wasserversorgung in Cochabamba beteiligt war, sind Wahlen in Bolivien lediglich ein »Werk der Rechten, der globalen Unternehmen und der US-Regierung, um den Volkskampf für die Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe zu schwächen und zu bremsen«. Er sieht im Wahlerfolg des Mas (Bewegung zum Sozialismus) von Morales zwar eine Bündelung der »Kräfte des Volkes«, die es zu nutzen gelte, die tra­ditionelle politische Vertretung der Bevölkerung durch die Parteien sei allerdings beendet.

Die Verfassungsdebatte steht im Mittel­punkt einer politischen Auseinandersetzung, die beispielhaft ist für die instabile Beziehung zwischen den sozialen Be­we­gungen und dem Mas. Die sozialen Bewegungen verschafften sich seit Anfang der neunziger Jahre Schritt für Schritt mehr Einfluss, in den Jahren 2003 und 2005 zwangen sie die Regierung zum Rücktritt. Die neue Verfassung sehen sie auch als eine Chance, ihren Einfluss zu institutionalisieren.

Der Mas versteht sich Vizepräsident Garcia Linera zufolge als das politische Instrument sämtlicher sozialen Bewegungen des Landes. Er lehnt jedoch radikale, den Staat in Frage stellende Forderungen einiger indigener und korporatistischer Strömungen nach alternativen Demokratie- und Gesellschaftsformen strikt ab: »Es scheint ihnen schwer zu fallen, sich der neuen Aufteilung der Machtstrukturen anzupassen.«

Noch in den neunziger Jahren kämpfte Linera selbst mit der Guerillagruppe Tupac Katari gegen den bolivianischen Staat, wofür er fünf Jah­re Haft im Gefängnis verbüßte. In der Verfassungsdebatte verteidigt er jedoch das parlamentarische System und eine Reformstrategie, die die staatlichen Institutionen nicht zerstört: »Die Verfassung und das Gesetz sind eine Land­karte der sozialen Kämpfe. Der Staat ist Dominanz und Widerstand in einem. Jeder Kampf geht über den Staat, sogar der, der gegen ihn geführt wird.« Der errungene Wahlsieg sei lediglich eine Etappe, um aus Bolivien eine postkoloniale Gesellschaft zu formen. Was für eine Gesellschaft das werden soll, bleibt offen.

Anfang März stimmten alle Parteien dem Gesetz zur Wahl der verfassunggebenden Versammlung zu. 255 Repräsentanten sollen über die konstitutionelle Reform beraten. Die Listen können von Parteien, Bürgerinitiativen, sozialen und indigenen Bewegungen aufgestellt werden, wobei ein Frauenanteil von mindestens 33 Prozent vorgeschrieben ist. Nach einer Gesetzesänderung können bei den kommenden Wahlen auch jene Bürger ihre Stimme abgeben, die im Dezember vergangenen Jahres wegen einer Besonderheit im bolivianischen Wahlrecht nicht teilnehmen konnten. Es handelt sich immerhin um knapp 800 000 Menschen, sie leben überwiegend in Gebieten, in denen mehrheitlich für den Mas gestimmt wird. Der Wahlkampf ist eröffnet, und manche bolivianischen Zeitungen vermuten, dass die Regierung mit der Veröffentlichung des Dekrets über die Nationalisierung der Erdgasvorräte zögert, um kurz vor der Abstimmung mit einer populären Maßnahme aufwarten zu können.